In besten Kreisen
»Du meine Güte, sieht man das so deutlich? Das tut mir leid. Ich habe eigentlich nichts gegen kleine Jungen, wenn sie so um die fünf sind, kurze Hosen tragen und die Haare à la Prince Charles geschnitten haben, Gott segne ihre artigen kleinen Herzen; Leo ist dagegen eher eine Nervensäge, findest du nicht?« »Leo ist in Ordnung, solange man ihn ernst nimmt und mit Würde behandelt. Du hast übrigens meine Frage noch nicht beantwortet.« »Was für eine Frage, mein lieber William?« »Ach, zum Teufel, Emmet, ich gebe ja zu, du bist unterhaltsam, sehr unterhaltsam, und vor allem bewundere ich, wieviel Alkohol du verträgst, ohne aus der Rolle zu fallen.« »Dein Fassungsvermögen ist auch nicht von schlechten Eltern.« »Kein Vergleich. Mit fortschreitendem Abend wirst du einfach immer schlauer. Glaubst du, deine Widerstandskraft gegenüber Alkohol hat etwas mit deiner Unattraktivität für Moskitos zu tun?« »Es sind gar nicht in erster Linie Moskitos, wie Kate mir erzählte, sondern Bremsen und eine Sorte fliegender Ameisen. Warum sagst du nicht endlich, was dir im Kopf herumgeht?« »Zufällig habe ich nichts gegen Schwule, obwohl sie neuerdings die Landschaft regelrecht zu überschwemmen scheinen, aber du hast seit drei Jahren eine leidenschaftliche Liebesaffäre mit einer verheirateten Frau. Warum tust du ständig, als könnte dich nichts Weibliches so in Wallung bringen wie ein Chorknabe?« »Dürfte ich mit aller Zurückhaltung fragen, woher…« »Keine Sorge. Das hat sich noch nicht herumgesprochen. Lina Chisana, die dieses Wochenende hierher kommt, ist mit deiner – ehm – Geliebten zur Schule gegangen. Die beiden sind gute Freundinnen.
Genau wie Lina und ich gute Freunde sind. Keiner von uns ist ein Klatschmaul, was du vielleicht glaubst, weil deine – ehm -Geliebte es Lina weitererzählt hat. Ich muß jedoch zugeben (und ich bin froh, das endlich loszuwerden), daß ich es Kate gesagt habe. Sie hat sich, was ja nicht unnatürlich ist, Sorgen gemacht wegen dir und Leo. Ich kenne Kate auch schon seit drei Jahren, nebenbei bemerkt, und sie ist bekannt dafür, so unbestechlich zu sein wie Carlyle und so schweigsam wie ein Grab.« »›Geliebte‹«, sagte Emmet und untersuchte seine Beine nach Spuren von Sonnenbrand, »ist für mich ein Begriff, den es präziser anzuwenden gilt. Sollte dieses Wort nicht, etymologisch gesehen, einer Frau vorbehalten bleiben, die von einem Mann finanziell ausgehalten wird, der ihr also eine Wohnung mietet, Kleidung kauft und von ihr erwartet, daß sie mit ihm schläft, wann immer er bei ihr auftaucht?« »Ich sehe nicht recht…« »Heutzutage benutzen wir den Begriff für jede Frau, mit der ein Mann einmal geschlafen hat. Aber wieso sollte sie deswegen seine Geliebte sein? Sind beide nicht eher Menschen, die sich lieben, sonst nichts?« »Versuch einmal, das Mary Bradford auseinanderzusetzen.« »Ach, vögel doch mit Mary Bradford, wenn du die Vorstellung erträgst. Was mich zu der Frage bringt, nachdem wir schon auf diese reizende, um nicht zu sagen mädchenhafte Weise Vertraulichkeiten austauschen: Wie lange ist es her, seit du mit deiner feierlichen Art eine Frau gehabt hast, und sei es nur im Traum?« William stand auf. »Tut mir leid, Emmet. Ich habe dich ganz offenbar beleidigt. Bitte, nimm meine Entschuldigung an. Ich dachte bloß…« »Ach, bei Petrus und allen Heiligen, setz dich hin. Was mich an Leuten, die ein Leben voller Keuschheit führen, so wild macht, ist, daß sie offenbar glauben, ihre Reinheit würde in Frage gestellt, wenn sie darüber reden. Ich wollte es dir gar nicht mit gleicher Münze heimzahlen, ich wollte dir nur bescheiden einen Dienst erweisen, wie du, nehme ich an, auch mir. Macht nichts. Ich bin verdammt verliebt in eine verheiratete Frau, die ihre Scheidung nicht durchsetzen kann und deren Ehemann ein brutaler Kerl ist. Es reizt mich, mich in diesem Sommer ernsthaft mit der modernen Literatur zu befassen, weil mir die früheren, melodramatischeren Werke etwas zu sehr unter die Haut gehen.« »Tut mir leid für dich. Wo verbringt sie den Sommer?« »Sie ist mit ihrem Mann auf einer verfluchten Jacht. Würde es dir schrecklich viel ausmachen, wenn wir über etwas anderes redeten?« »In Ordnung; James Joyce. Wie kommst du mit seinen frühen Briefen weiter?« »Untertänigsten Dank, sehr gut, sehr gut. Sam Lingerwell war zweifellos ein großer Mann. Wenn dein Anti-Insekten-Duft verflogen ist, dann komm mit, und ich zeige dir ein paar
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