In Blut geschrieben
Schlüssels im Schloss zu vernehmen, müde betritt Annabel den Raum. Auf dem Sofa mit dem südamerikanischen Plaid sind wir nicht zu erkennen, vor allem, weil sie kein Licht macht. Sie zieht die Schuhe aus und geht still durch das Zimmer, gleitet fast über das Parkett. Ihr Schatten wandert an der Wand entlang, an der die Fotos hängen, diese Gesichter des Leids. Lässig wirft sie ihre Lederjacke über einen Stuhl und geht in die Küche. Sie öffnet den Haarknoten, lässt ihre Zöpfe auf die Schultern fallen. Sie beugt sich zum Kühlschrank, öffnet die Tür, und die kleine Lampe darin taucht ihre abgespannten Züge in goldenes Licht. In der Hocke an die Wand gelehnt, trinkt sie die Milch direkt aus dem Tetrapak. Bittere Erinnerungen schlagen wie Wellen über ihr zusammen. Früher hockte sie oft vor dem offenen Kühlschrank, trank mitten in der Nacht gierig ein paar Schlucke Milch, nackt, nach der Liebe, noch mit Bradys Schweiß auf der Haut, dem salzigen Samt der Verbundenheit.
Vom Wohnzimmer aus können wir die schlanke Figur der jungen Frau, die sich wieder aufrichtet und ihre endlosen Beine streckt, beobachten. Wir sehen, wie sie an der Lippe nagt und in der Stille der Nacht eine glänzende Perle über ihre Wange rinnt.
Das ist der Augenblick, uns davonzuschleichen. Es gibt im Leben eines Menschen Momente, die keinen Trost, keinen Zeugen dulden, denn nur die Zeit kann den Schmerz lindern. Und durch die Wohnungstür verschwinden wir in die schlafende Stadt.
… unter den Palmen. Der Sand ist golden, das azurblaue Meer ergießt seine Schaumkronen zärtlich über den Strand und umschmeichelt Annabels Knöchel. Er ist hinter ihr, lacht, das ist ungewöhnlich, und seine Hand legt sich auf die Hüfte der jungen Frau. Eine kräftige, beruhigende Hand, die in ihrem Leib eine betörende Hitze auslöst, ein Gefühl, das sie seit langem nicht mehr verspürt hat. Langsam dreht sie den Kopf zur Seite, die Zöpfe flattern, als hätten sie ein Eigenleben. Er ist da, zumindest seine Silhouette, sie hebt den Kopf und …
Mit einem Ruck fuhr Annabel aus dem Schlaf, ihr Herz raste.
Das Telefon klingelte.
Keuchend und schweißgebadet starrte sie auf die Leuchtziffern ihres Weckers – 3:12 Uhr. Sie hatte noch nicht lange geschlafen. Die Benommenheit wich einer bedrückenden Angst. Ein Gewicht auf ihrer Brust. Wer konnte das sein? Sie streckte die Hand nach dem Hörer aus und hob ab.
»Ja?«
»Es tut mir Leid, wenn ich Sie geweckt habe, es gibt Neuigkeiten.«
Sie kannte diese Stimme.
»Es ist wichtig, und äh … Na ja, ich glaube, Sie sollten herkommen, nein, Sie müssen kommen.«
Brett Cahill, der junge Detective.
»Welche Art von Neuigkeiten?«, fragte sie seufzend.
»Nun, wie soll ich sagen? … Es ist der Mörder, er hat eine Nachricht hinterlassen. Bob, wollte ich sagen, er wendet sich direkt an Sie.«
Jetzt verschwand auch die letzte Spur von Schlaf aus ihrem Gehirn.
»Was? Wo?«
»Ja, aber es ist ziemlich sonderbar. Man könnte sagen, die Botschaft wurde … überbracht von einer Frau.«
»Von einer Frau? Einem der Opfer? Lebt sie noch?«
Cahill zögerte.
»Ja, gerade noch.«
»Was soll das wieder heißen?«
»Das lässt sich nicht beschreiben. Der Umschlag mit der Nachricht trug Ihren Namen, er war dem Mädchen direkt auf die Haut geheftet, auf die Brust.«
Nach einem kurzen Schweigen fügte Brett Cahill leise hinzu: »Sie schreit ununterbrochen, sie habe den Teufel gesehen, sie sei durch die Hölle gegangen.«
Annabel schloss die Augen. So richtig wach war sie doch noch nicht, es ging ihr alles zu schnell, wie in einem Traum, einem Albtraum.
»Ich komme.«
Sie legte das schnurlose Telefon auf das Kopfkissen.
40
Brett Cahill spuckte seinen Kaugummi in einen Plastikpapierkorb. Er streckte sich und ließ die Gelenke knacken. In letzter Zeit trieb er nicht mehr genügend Sport, er war zu müde, zu erschöpft. Zwischen den bewegten Nächten und den harten Tagen als Polizist blieb ihm keine Muße. Er musste langsamer machen, wenn er durchhalten wollte, musste unbedingt weniger arbeiten. An seinen nächtlichen Aktivitäten konnte er nichts ändern, es war mehr als nur ein Bedürfnis, es war eine Notwendigkeit. Mitten in der Nacht hier zu warten passte ihm sowieso nicht, er musste sich für den nächsten Tag organisieren. Es gab einfach zu viel zu tun.
Hinter ihm öffnete sich die Tür. Er schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben, und gab sich Mühe, eine konzentrierte Miene aufzusetzen. Er
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