In Blut geschrieben
Hölle. Annabel hatte darüber nachgedacht, als sie vor ein paar Stunden zu Bett gegangen war. Warum hatte er Skelette in diesem Eisenbahnwaggon untergebracht? Leichen zu transportieren und dort abzulegen, um sie loszuwerden, war nachvollziehbar, aber warum Skelette?
»Mehrere Fingernägel sind bei diesem Mädchen abgerissen, und sie ist unterernährt. Wenn Sie mich fragen, ist sie psychisch am Ende.«
»Wie alt ist sie? Und wie heißt sie?«
»Sie heißt Taylor und ist siebzehn Jahre alt.«
Annabel ballte die Fäuste.
»In dem Umschlag war doch eine Nachricht, oder?«
Hanneck nickte düster.
»Sie liegt oben, ich hole sie Ihnen.«
Er führte sie durch einen schlecht beleuchteten Flur, erfüllt von elektronischem Summen, bis hin zu einer Tür mit einem Fenster und entfernte sich. Annabel spähte in den Raum hinein. Ein Porzellangesicht, eingerahmt von langen schwarzen Haaren, schmutzig und ungekämmt, und eine kleine, mit Sommersprossen übersäte Nase. Sie hatten Taylor einen grünen Kittel angezogen und sie in eine Decke gehüllt. Sie zitterte wie Espenlaub und konnte die geschundenen Hände nicht still halten. Die Beine hatte sie unter der Decke fest an den Körper gezogen. Sie befand sich an der Schwelle zur Katatonie.
Annabel öffnete vorsichtig die Tür, trat näher und setzte sich ganz behutsam neben das junge Mädchen. So verweilte sie einen Augenblick, ließ Taylor Zeit, sich an ihre Anwesenheit zu gewöhnen, legte ihr dann die Hand auf den Rücken und versuchte, ganz vorsichtig, sie durch sanftes Streicheln zu beruhigen.
Nach etwa einer Minute bewegte sich Taylor und wandte sich Annabel zu. Ihre dunklen Augen blinzelten nicht, sie glänzten seltsam, die Pupillen erweiterten und verengten sich unablässig. Nervöse Tics huschten über ihr Gesicht, das Kinn verzog sich.
Mit einiger Mühe richtete sie sich zu Annabel auf, trotz ihres Zustands wollte sie offenbar mit ihr reden.
Sie zuckte mit den Lidern, immer schneller. Dann, mit unvorstellbarer Wildheit, die man einem so zarten Wesen nicht zugetraut hätte, öffnete sie den Mund, ließ ihre gelblichen Zähne sehen.
Und schrie.
Der Plastikbecher verbrannte ihr die Finger, Annabel atmete den Duft des Kaffees ein. Cahill betrachtete sie leicht besorgt.
»Es geht schon«, antwortete sie.
Die Müdigkeit lastete nun zehnmal schwerer auf ihr.
»Ich weiß Bescheid über den Waggon«, erklärte Cahill. »Wir sind vorhin alle informiert worden. Eine schlimme Nacht, was?«
Statt zu antworten, lehnte sich Annabel zurück und starrte auf die gegenüberliegende Wand.
»Ich verstehe diesen Typen, diesen Bob, einfach nicht«, gestand Brett Cahill. »Er ist unglaublich. Falls er es war, der Lucas Shapiro umgebracht hat, dann ist er wirklich clever. Keinerlei Spuren. Der Gerichtsmediziner hat die beiden Kugeln aus der Leiche entfernt. Wir werden sie bei IBIS 1 ballistisch untersuchen lassen, allerdings besteht wenig Hoffnung. Nur wenn dieselbe Waffe noch einmal benutzt wird, hilft es uns weiter.«
Annabel fröstelte. Sie wollte Cahill nicht ansehen, er hätte sonst ihre Verstörtheit bemerkt. Zum Glück hatte Brolin beim Verlassen des Tatorts sehr genau aufgepasst. Er hatte sogar den Schnee entfernt, in den sein Blut getropft war.
Deputy Sheriff Hanneck rettete sie aus ihrer Zwangslage. Er trat zu ihnen, eine Plastikhülle in der Hand.
»Sie hat Beruhigungsmittel bekommen. Der Arzt ist nicht besonders optimistisch, was ihren geistigen Zustand betrifft.«
Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn und reichte Annabel die Hülle.
»Hier ist die Nachricht.«
Es befand sich ein kleiner Umschlag und eine Sicherheitsnadel, etwa so lang wie eine Zigarette, darin. Die Nadel war noch rot gefärbt. Auf dem Blatt war ein kurzer Text und ein Foto, direkt auf das Papier gedruckt.
»Es handelt sich um ein Digitalfoto, das der Typ ausgedruckt hat, der Text wurde auf einem Computer geschrieben. Ich nehme an, Sie kümmern sich selbst darum, es wegen der Fingerabdrücke ins Labor zu schicken.«
Annabel nickte, obwohl sie schon jetzt wusste, dass es wie immer keine Abdrücke geben würde.
Der Text war knapp und präzise.
Sie haben Lucas, er gibt den perfekten Schuldigen für
die öffentliche Meinung ab.
Also vergessen Sie mich, oder sie werden sterben, gehen Sie Ihrer Wege, oder sie werden sterben, behelligen Sie mich nicht mehr, oder sie werden sterben.
Wenn Sie nur noch ein einziges Mal
gegen mich ermitteln, sterben sie.
Und ich habe noch andere zur Hand.
Es
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