In Blut geschrieben
sind nicht alle tot, sie warten,
viele andere, an meiner Seite.
Aber die haben dann Sie auf dem Gewissen.
Annabel zweifelte keinen Augenblick. »Eine Warnung«, sagte sie. »Er will, dass wir die Ermittlungen einstellen.«
»Und er dürfte ziemlich wütend sein«, fügte Hanneck hinzu.
Cahill zuckte mit den Schultern. »Ist das alles? Er erteilt uns jetzt also Befehle«, meinte er entrüstet.
»Es hat ihm nicht gepasst, dass wir Lucas Shapiro gefunden haben«, erwiderte die junge Frau.
»Der hält uns wohl für Idioten? Er hat doch Shapiro umgebracht, dafür lege ich meine Hand ins Feuer!«
Annabel schluckte. Allzu gerne hätte sie jetzt geredet, hätte erklärt, wie Brolin und sie bei Shapiro waren, wie er ums Leben gekommen war. Im Augenblick konnten nur sie und der Privatdetektiv Bobs Zorn verstehen. In Kürze, wenn er feststellen würde, dass die Polizei das Geheimnis seines makabren Eisenbahnwaggons entdeckt hatte, würde er vor Wut platzen.
Sie reichte Brett Cahill die Nachricht, damit er sich das Foto anschauen konnte. »Auf jeden Fall kommt das Schlimmste erst noch«, kündigte sie an.
Cahill runzelte die Stirn und blickte auf das gedruckte Foto. Die Qualität war ausreichend gut, man konnte den schwarzen Hintergrund erkennen und vor allem einen Mann und eine etwa vierzigjährige Frau sowie zwei Kinder und eine Jugendliche. Sie blickten alle mit dem Ausdruck blanken Entsetzens in die Kamera.
Eine ganze Familie.
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1 IBIS: Integrated Ballistics Identification System: Informationssystem zur Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Forensische Technologie in Kanada und AFT: Bureau of Alcohol, Tobacco and Firearms: zuständig für die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften beim Verkauf von Alkohol, Tabak, Feuerwaffen und Sprengstoff; gilt als gewalttätig, aber effizient
41
Carly war acht Jahre alt, ihre Welt beschränkte sich auf diese feuchte Höhle, verschlossen durch eine Holztür. Ab und zu brachte ihr das Ungeheuer eine neue Kerze. Er zündete sie an und stellte sie auf den kleinen Wachshügel, der einen Stein überzog. Eines Tages, als sich die Kerze etwas zu weit auf die Seite geneigt hatte, wollte Carly sie wieder aufrichten – das Licht der Flamme war das Letzte, an das sie sich klammern konnte –, und dabei hatte sie sich ein wenig heißes Wachs über die Finger gegossen. Das tat weh.
Von einer perversen Neugier getrieben, wiederholte sie den Vorgang. Die durchsichtige Flüssigkeit floss über ihren Handrücken, brannte schlimmer als Brennnesseln und wurde milchig, als sie sich verfestigte.
Dieser Schmerz wurde für das Mädchen zur einzigen Möglichkeit, noch etwas zu spüren. Er zeigte ihr, dass sie am Leben war, irgendwo in der Hölle, aber sie lebte.
Daran dachte Carly, als sie sich in ihre drei Decken einrollte und versuchte, sich ein warmes Nest zu schaffen. Und an das Loch in der Tür.
Sie hatte es schon vor langer Zeit entdeckt, aber was hieß hier unten schon lange? Es war viel zu schmal, um auch nur die geringste Hoffnung aufkommen zu lassen. Sie konnte aber wenigstens in den Korridor schauen. Meistens drangen von dort schreckliche Geräusche zu ihr: Kettenklirren, schauriges Knurren wie von einem Werwolf oder grauenhafte Schreie. Manchmal passierte draußen etwas, eine Bewegung, jemand ging vorbei. Das kam aber selten vor, und Carly hatte nicht so sehr darauf geachtet, bis der Schmerz der Verbrennung wieder etwas Interesse an ihrer Umgebung in ihr geweckt hatte.
Sie hörte ein Schlurfen im Flur, das dumpfe Geräusch von Schritten.
Carly wickelte sich in eine der Baumwolldecken und ging leise zur Tür. Ihr zierlicher Körper drängte sich an die Tür, und sie drückte ein Auge an die Ritze zwischen den beiden lockeren Holzlatten.
Der Korridor war in den Stein geschlagen, ähnlich wie in einem Bergwerk. Das gedämpfte Licht einer Fackel brannte auf der rechten Seite, eine unheimliche Fackel, die aussah, als wäre sie aus einem langen Knochen gemacht.
Auf dem Boden breitete sich ein Schatten aus. Dann tauchte eine Frau auf, das Gesicht war ausgemergelt und schmutzig, sie zitterte, hatte langes strähniges Haar und bewegte sich lautlos voran. Carly schätzte sie auf etwa vierzig Jahre. Sie hätte als Schauspielerin das Elend der Welt verkörpern können, wäre da nicht diese verwirrte Ernsthaftigkeit in ihren Augen gewesen.
Carly fand sie sehr schön.
Plötzlich hatte sie den Wunsch, sich fest an sie zu schmiegen.
Hinter der Frau kam das Ungeheuer in ihr
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