In Blut geschrieben
drehte sich um und sah Annabel O’Donnel. Ihre Haare glichen Lianen, ihre Augen leuchteten wie die eines Raubtiers auf der Jagd. Sie war betörend.
»Wo ist sie?«, fragte sie sofort.
Cahill nahm seinen Mantel.
»In Trenton, New Jersey. Sie irrte auf einer Straße umher und wurde von einem Lastwagenfahrer entdeckt. Sie wird dort versorgt.«
Sie liefen die schmale Treppe hinunter und nahmen Annabels Auto, der BMW kam auf den verschneiten Straßen besser durch. Auf der Fahrt berichtete Cahill so vollständig wie möglich: »Sie wurde gegen ein Uhr morgens stark unterkühlt von der Straße aufgelesen und stand völlig unter Schock.«
»Und diese Nachricht?«
»Ein banaler Umschlag, wurde mir gesagt, aber mit der Aufschrift ›Detective Annabel O’Donnel NYPD‹.«
»Er wendet sich an die Polizisten, die die Ermittlungen gegen ihn führen. Wir haben es bis jetzt immer so arrangiert, dass bei den Pressemitteilungen nur mein Name genannt wird, das lässt Thayer und den anderen mehr Spielraum.«
Annabel hütete sich, zu ergänzen, dass das zum Teil auch auf Brolins Ratschläge zurückzuführen war.
Cahill schaute die junge Frau an.
»Auf jeden Fall wurde der Umschlag mit einer großen Sicherheitsnadel direkt am Brustwarzenring befestigt. Die junge Frau lief wie ein Zombie die Straße entlang, sie hatte ihn nicht entfernt. Im Augenblick wird sie medizinisch versorgt, die örtliche Polizei erwartet uns.«
Annabel trat aufs Gaspedal.
Der Wagen fuhr am New Jersey State Capitol von Trenton vorbei direkt zum Krankenhaus. Ein Polizist in Uniform wartete rauchend am Eingang. Er war hoch gewachsen und hatte Muskeln wie ein Catcher. Seine grünen Augen sahen jeden Passanten prüfend an. Mit ausgestreckter Hand kam er auf die beiden Detectives zu.
»Guten Tag, ich bin Deputy Sheriff Hanneck.«
Er musterte Annabel.
»Kommen Sie, das Mädchen ist im ersten Stock. Wir haben sie gerade identifiziert.«
»Das ging aber schnell«, staunte Cahill.
»Ein Glücksgriff. Sie stand schon in der Kartei, weil sie in Philadelphia ein Auto gestohlen hat. Vor kurzem hat ihre Mutter die Behörden verständigt, dass ihre Tochter weggelaufen ist. Das war vor eineinhalb Monaten.«
»Ist denn bekannt, was sie in dieser Zeit gemacht hat?«, erkundigte sich Cahill, obwohl er wusste, dass es für solche Fragen noch zu früh war.
»Nein, wir werden ihre Freunde verhören, vielleicht erfahren wir etwas. Sie wohnte normalerweise in Phillipsburg, nicht weit von hier.«
Annabel ging ein Stück hinter ihnen und hörte den beiden Männern zu. Sie war fest davon überzeugt, dass kein Freund das Mädchen seit seiner Flucht gesehen hatte. Bob behielt seine Opfer gerne lange bei sich. Die Fotos zeigten es, denn die digital integrierten oder per Hand eingetragenen Datumsangaben auf den Bildern lagen manchmal mehrere Monate nach dem Zeitpunkt der Entführung. Spencer Lynchs und Lucas Shapiros Fotos wiesen diese Besonderheit nicht auf, sie galt vor allem für die letzte Gruppe, die der neunundvierzig Aufnahmen, die sie Bob zuordneten.
»Ist ihr Gewalt angetan worden?«, fragte sie.
Hanneck drehte sich zu ihr um. Seine Augen waren sehr hell, fast betörend.
»Sie ist nicht vergewaltigt worden. Auf jeden Fall hat der Arzt, der sie untersucht hat, keine Verletzungen im Vaginal- oder Analbereich festgestellt. Er hat sie aber nicht allzu gründlich untersucht. Das Mädchen ist in einem unglaublichen Zustand. Es ist, als … als hätte man sie in den Wahnsinn getrieben. Wie ist so etwas möglich?«
Niemand antwortete. Im Aufzug fuhr Hanneck fort: »Wir haben gerade die ersten toxikologischen Ergebnisse erhalten. Es ist verrückt, sie hat nichts im Blut, auf jeden Fall keine medizinische Substanz, die sie so hätte zurichten können. Sie weist Spuren von Schlägen auf und Blutergüsse, aber nichts Alarmierendes. Sie hat sich eine riesige Sicherheitsnadel in die Brustwarze stechen lassen und hat sie nicht entfernt, während sie völlig nackt durch die Nacht lief.«
Wie bei Spencer Lynch, dachte Annabel. Die Mädchen werden ausgezogen. Nur dass Lynch sie betäubte, vergewaltigte und sie auch skalpierte. Und was tat ihnen Bob an? Annabel hatte den Eindruck, einen Meister und seinen Schüler vor sich zu haben, einen Maestro des Todes, der keine Hilfsmittel brauchte, um Leid zu verbreiten, und sein Lehrling, ein Anfänger, der alle möglichen Accessoires benötigte und hoffte, eines Tages die Quintessenz des Bösen zu werden. Bob war die Ausgeburt der
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