In Blut geschrieben
lassen.
»Und wenn Sie diesen Bob finden, was machen Sie dann mit ihm?«
Die Frage von Murdoch belustigte Thayer.
»Ich persönlich würde ihn am liebsten aufs Rad spannen wie im Mittelalter, doch ich befürchte, das FBI hält nichts von dieser Methode. Wahrscheinlich wird er zum Tode verurteilt, wenn bewiesen werden kann, dass er der Gesuchte ist. Doch darum geht es jetzt nicht. Was uns alle beschäftigen sollte, ist die Frage, ob die Opfer, die er gefangen hält – bei sich oder anderswo noch am Leben sind. Im entgegengesetzten Fall sitzen wir ganz schön in der Tinte. Niemand will einen Pyrrhussieg. Stellen Sie sich für zwei Sekunden vor, das FBI nagelt ihn fest und man findet niemanden bei ihm. Die Federals stehen nicht in dem Ruf, besonders zimperlich zu sein, doch wir gehen trotzdem davon aus, dass sie ihn bei der Verhaftung nicht abknallen. Wenn Bob schweigt, werden wir niemals erfahren, wo sich seine letzten ›Geiseln‹ befinden.«
»Geiseln? Sie glauben, es handelt sich um Geiseln?«, fragte Murdoch erstaunt.
»Nein«, entgegnete Annabel knapp. »Er entführt all diese Menschen aus einem ganz bestimmten Grund, der uns bislang nicht bekannt ist, doch er verfolgt damit ein Ziel, das nichts mit Geld oder einer Garantie für seine Sicherheit zu tun hat. Das heißt, Jack hat Recht: Wenn Bob hinter Gitter kommt und niemand bei ihm entdeckt wird, ist das der Anfang eines langen Count-downs, an dessen Ende der Tod seiner Opfer steht. Denn einige sind in diesem Augenblick noch am Leben, dessen bin ich mir sicher.«
Sie beugte sich über den Tisch, griff nach einem Aktendeckel und zog mehrere Fotos und maschinengeschriebene Dokumente hervor.
»Hier, sehen Sie«, fuhr sie fort. »Wenn man die Daten der Entführungen mit denen auf den Fotos vergleicht, stellt man fest, dass oft mehrere Wochen, ja, Monate dazwischen liegen. Von Anfang an wurde ständig mindestens eine Person festgehalten, oft waren es sogar sehr viel mehr. Und was Bob betrifft, so hat er es fertig gebracht, die Opfer am Leben zu halten. Aber wo? Das ist die Frage.«
Sheriff Murdoch zuckte mit den Schultern.
»Heute Nachmittag haben Sie mir erzählt, Sie hätten bei Shapiro einen geheimen Raum in einer Garage entdeckt, das könnte doch …«
»Nein, dort war es viel zu kalt, niemand hätte da drinnen länger als ein paar Stunden überleben können. Wir haben in diesem Kühlraum ›nur‹ eine Leiche gefunden, wenn man so sagen darf. Er diente Shapiro für seine Folter-Sitzungen, die Vergewaltigungen und wahrscheinlich auch die Tötung. Wenn er eine Person, ohne sie zu töten, mehrere Wochen bei sich hatte, brauchte er einen anderen Ort. Vielleicht dort, wo Bob all seine Opfer gefangen hält. Aber so ein abgelegener Platz ist nicht leicht zu finden, und es ist anzunehmen, dass die beiden nicht denselben Ort benutzt haben.«
Murdoch verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte, die Lippen zusammengepresst, nachdenklich den Kopf. Schließlich stand er auf.
»Ich kümmere mich jetzt um das Essen. Sie können all das ordnen und verteilen, wie Sie wollen«, sagte er und deutete auf die Akten. »Nach dem Essen helfe ich Ihnen gern, dann können wir das Ganze noch einmal systematisch durchgehen.«
Während draußen der Schnee von den Sturmböen wild durcheinander gewirbelt wurde, verzehrten die drei einen Rinderbraten mit kleinen Kartoffeln und Zwiebeln, die Murdoch in dem Bratensaft hatte garen lassen. Wenn er, wie er selbst behauptete, vielleicht nicht der genialste Cop war, so ließ sich nicht leugnen, dass ein exzellenter Profikoch an ihm verloren gegangen war. Sie sprachen von Dingen, die nichts mit den Ermittlungen zu tun hatten, und gegen Ende des Essens spürte Annabel, wie sich der Knoten in ihrem Solarplexus allmählich löste. Bei den Anekdoten über das »hektische« Leben eines Sheriffs in Phillipsburg hatten die beiden Cops aus New York herzlich lachen müssen.
Angenehm gesättigt ließen sich Annabel und Jack noch zu einem Digestif überreden. Sie schlürften ihn schweigend, bis Annabels Blick auf die Umschläge mit den Fotos der siebenundsechzig Opfer fiel. Sie stand auf und holte einige daraus hervor. Zunächst zögernd, dann immer entschlossener tauschten sie ihre Ansichten über den möglichen Tathergang aus, über die Biographien der Opfer und eventuelle Verbindungen zwischen ihnen. Das Hauptproblem war, dass sie nicht über genügend Details verfügten, um die Hintergründe zu verstehen, nicht einmal, um ein Profil
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