Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In Blut geschrieben

In Blut geschrieben

Titel: In Blut geschrieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maxime Chattam
Vom Netzwerk:
Enrique die Fackel ab und reichte ihm stattdessen eine Taschenlampe.
    »Und weiter geht’s«, sagte er zu Brolin gewandt.
    Nach kaum zehn Schritten hörten sie hinter sich eine Stimme brüllen:
    »¿Porqué no quieres pagar? ¡Hijo de puta!« Warum willst du nicht zahlen? Hurensohn!
    Es folgte ein brutaler Schlag und im gleichen Moment ein durchdringender Schrei.
    Enrique sagte kein Wort dazu, tat so, als hätte er nichts gehört.
    Nach mehreren Biegungen und Kreuzungen gelangten sie an eine Metalltür. Enrique schob einen Schlüssel in das Schloss und zog den schweren Flügel auf.
    Vor ihnen lag ein riesiger hoher Raum, voll mit Leitungen, Stellschrauben und Becken. Sie durchquerten ihn auf einer Stahlbrücke, auf der ihre Schritte hallten, stiegen mehrere Treppen hinauf und hinab, bis sie in einen Korridor kamen, den die Dämpfe eines undichten Heißwasserrohrs vernebelten. Aus Angst, ihn in diesem feuchten Dunst zu verlieren, ließ Brolin keinen Meter Abstand zwischen sich und seinem Führer. Dann wieder eine schwere Tür, die Enrique mit einem Schlüssel öffnete, und weitere enge und niedrige Gänge. Sie liefen durch die Eingeweide von Manhattan, und Brolin hatte nach all diesem Auf und Ab, den Kreuzungen und Biegungen jegliche Orientierung verloren. Möglicherweise befanden sie sich unter dem Central Park oder unter Ward’s Island. Sein einziger Fixpunkt war der blasse Kegel von Enriques Taschenlampe.
    Nachdem sie eine im Beton verankerte Sprossenleiter hochgeklettert waren, bewegten sie sich zwischen menschlichen Silhouetten, die mit Plastiksäcken oder übel riechenden Mülltüten bedeckt waren. Eine der Gestalten knurrte, als sie auf ihrer Höhe angelangt waren, und Brolin spürte, dass Enrique am liebsten zugetreten hätte. Der kleine Mann mit dem mexikanischen Akzent hielt sich zurück und begnügte sich damit, angewidert auf den Boden zu spucken. Dann wieder Stufen und ein Gang mit nackten Glühbirnen – eine traurige, bleiche Girlande vor grauem Gemäuer. Während sie sich durch diesen Korridor bewegten, begann plötzlich der Boden zu beben, und Sekunden später waren die beiden Männer von einem ohrenbetäubenden Lärm umgeben. Mit schrillem Getöse fuhr eine U-Bahn direkt über ihnen entlang und brachte ein Gitter, das zu den Gleisen führte, zum Vibrieren.
    Kurz darauf hob Enrique einen Bodendeckel hoch, unter dem sich ein ehemaliger Maschinenraum befand. Als sie unten waren, machte er Brolin ein Zeichen, sich umzudrehen.
    »Den Rest des Weges darfst du nicht sehen. Ich verbinde dir die Augen. Los, keine Diskussionen.«
    Brolin gehorchte. Er war der Bande jetzt gnadenlos ausgeliefert.
    »Siehst du was?«
    »Nein, nichts.«
    Er nahm einen plötzlichen Luftzug vor seinem Gesicht wahr und begriff mit etwas Verzögerung, dass Enrique zu einem Fausthieb angesetzt haben musste, der drei oder vier Zentimeter vor seiner Nase endete. Ein Test, um zu prüfen, ob er wirklich nichts sah.
    »Jetzt hörst du auf meine Befehle. Du hebst den Fuß oder setzt ihn ab, wenn ich es sage. Vorwärts!«
    Enrique legte eine Hand auf Brolins linken Arm, und so begannen sie den letzten Teil der Wegstrecke. Wieder ging es nach rechts und nach links, hinauf und hinunter. Minuten, die Brolin wie eine halbe Ewigkeit vorkamen. Und irgendwann hatte Brolin das Gefühl, Enrique würde absichtlich Umwege durch ein und denselben Raum machen, nur um ihn zu verwirren. Sie liefen nicht sehr schnell, doch bald spürte Brolin, dass ihm der Schweiß über den Rücken rann. Die Luft wurde immer feuchter und wärmer, obwohl es Winter war. Enrique blieb unvermittelt stehen und sagte etwas auf Spanisch. Ein anderer Mann antwortete ihm und entfernte sich dann leise. Ein Wächter auf Patrouillengang, was bedeutete, dass sie sich dem Ziel näherten.
    Plötzlich wurde ihm die Augenbinde weggerissen.
    Brolin blinzelte, um sich an das Licht zu gewöhnen.
    »Bienvenido am Hof der Wunder«, deklamierte Enrique feierlich.
    Hohe Kerzen brannten in Nischen, die in den Stein geschlagen waren. Es musste sich um eine sehr alte Stätte handeln, denn die Spuren von Spitzhacke und Meißel waren durch die Jahrhunderte verwittert. Der Gang war so breit, dass fünf Männer nebeneinander darin Platz hatten, die Decke aber relativ niedrig. Er war nicht nur in das bernsteinfarbene Licht der Kerzen getaucht, sondern auch in einen geheimnisvollen bläulichen Schimmer, dessen Ursprung Brolin nicht erkennen konnte.
    Brolin folgte Enrique, und hinter der nächsten Biegung

Weitere Kostenlose Bücher