In Blut geschrieben
zu erstellen, dachte Annabel in Erinnerung an Brolins Vorgehensweise. Sie breitete alle Fotos der Opfer vor sich aus, beginnend mit denen, die bei Shapiro gefunden worden waren, und legte jeweils den Abzug daneben, den die Polizei von den Angehörigen der Vermissten erhalten hatte. Sie ging noch einmal Namen und Alter durch und versuchte zu verstehen, was sich im Kopf dieses Bob abspielen mochte.
Thayer und Murdoch auf der anderen Seite des Tisches vertieften sich in den Autopsiebericht des Mädchens, das im Park von Larchmont gefunden worden war.
Annabel ließ den Zeigefinger über die Fotos gleiten.
Warum du? Und du? Brolin hatte Recht, anfangs hielten sich Bob und seine Bande bei ihren Entführungen an eine gewisse Ordnung – eine Altersgruppe, dann eine andere, eine Rasse oder ein Geschlecht, dann zwei Schwestern, eine Mutter und ihr Sohn bis hin zu einer ganzen Familie. Und mittendrin ein wenig von allem, als wüssten sie nicht mehr, was sie wählen sollten … Warum?
Sie betrachtete all die Augenpaare, die über den Tisch verteilt waren.
Sagt es mir …
Annabel untersuchte die entstellten Gesichter und daneben ihr lächelndes Pendant. Sie verglich die Unbekümmertheit mit dem Schmerz, das sprühende Leben mit der Verzweiflung.
Sie konnte die Lösung des Rätsels fast greifen, sie war da, vor ihr. Etwas, das nicht stimmte, nur dass sie nicht wusste, was.
Ihr Mund war leicht geöffnet, während sie mit wachsender Nervosität ein Fotopaar nach dem anderen verglich. Und wenn …
Wie war es möglich, dass sie das vorher nicht gesehen hatte? Diese kaum merkliche Veränderung von einem Foto zum nächsten!
Alarmiert durch die Unruhe seiner Kollegin, blickte Thayer auf.
»Was ist, Anna?«
Sie nahm die Fotos, jeweils zwei, verglich die Daten, immer schneller.
»Anna?«
Sie legte die beiden, die sie gerade in der Hand hielt, wieder hin, ließ den Blick über all die anderen schweifen. Sie schloss die Augen, schlug sie langsam wieder auf.
»Jack«, brachte sie mühsam hervor. »Ich glaube, jetzt habe ich begriffen. Wir hatten die Antwort von Anfang an vor Augen. Sieh dir die Fotos an, Jack … Es ist unglaublich …«
59
Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, stand Brett Cahill vor der großen Scheibe und wohnte der Geburt der Schrift bei. Special Agent Keel saß hinter ihm und blätterte in einer Fachzeitschrift.
In einem der Laboratorien der New Yorker FBI-Zentrale trennte Diane Bardolino hinter der Glasfront sorgfältig die letzte Seite aus dem Notizbuch von Lucas Shapiro heraus. Vom Summen der eingeschalteten Apparate begleitet, setzte sie das Skalpell zum endgültigen Schnitt an. Diane war nicht bei bester Laune, denn als sie am Abend gerade ein Bad nehmen wollte, hatte das Telefon geklingelt. Wie sie diesen Augenblick gehasst hatte. Ein Notfall, und nur sie verfügte über die entsprechenden Kompetenzen und war erreichbar! Also hatte sie ihren kuscheligen Bademantel abgelegt, war in ein Kostüm geschlüpft und losgefahren.
Dieses verflixte Blatt Papier sollte bloß seine Geheimnisse preisgeben, ehe sie die Geduld verlöre.
Sie nahm das weiße unbeschriebene Blatt und legte es auf eine poröse Bronzeplatte, dann drückte sie auf einen Knopf. Die Kontrolllampe leuchtete rot auf und zeigte an, dass die Vakuumbox arbeitete. Die Pumpe sog das Papier gleichmäßig an und drückte es fest auf die Platte.
Brett Cahill ging auf und ab und beobachtete die einzelnen Phasen der Prozedur.
»Nervös?«, fragte Neil Keel.
Cahill zuckte zusammen.
»Etwas angespannt. Die Vorstellung, dass dieses Stück Papier uns vielleicht den Namen des schlimmsten Verbrechers des Landes verrät oder glatt und weiß bleibt wie eine Schüssel Milch, macht mich ganz verrückt.«
Das Neonlicht spiegelte sich auf Keels Glatze.
»Genießen Sie diesen Augenblick, Detective Cahill«, kommentierte Keel ironisch. »Diese köstlichen Minuten der Ungewissheit. Vielleicht wissen wir in einer Viertelstunde genauso wenig wie jetzt, vielleicht ist der Fall auch gelöst. Die wahren Glücksmomente im Leben sind nicht unsere Erfolgserlebnisse, sondern diese kurzen Phasen der Ungewissheit, wenn unser Alltag kippen kann, wir aber noch nicht wissen, in welche Richtung.«
Cahill fuhr sich durch das kurz geschnittene Haar und seufzte.
»Was macht sie?«, fragte er.
Keel trat so dicht an die Scheibe, dass sie bei jedem seiner Atemzüge beschlug.
»Diane arbeitet mit dem ESDA 1 . Gerade hat sie die Saugpumpe eingeschaltet, und der Film,
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