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In Blut geschrieben

In Blut geschrieben

Titel: In Blut geschrieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maxime Chattam
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nur ein Häufchen hartes Wachs hinterlassen, wieder andere waren neu und noch nicht angezündet. Die Wände waren mit schwarzen Inschriften bedeckt. » ERHEBUNG «, »GEIST«, »KRAFT « und viele andere. Annabel erkannte Zitate von Politikern, vor allem von Martin Luther King. Das Geräusch war jetzt ganz nah, auf der anderen Seite der Wand.
    Annabel hielt ihre Beretta fest in beiden Händen und näherte sich der Durchgangstür. Ihre Knie waren nicht weich, ihre Handflächen nicht feucht. Sobald sie ihre Fantasievorstellungen im Zaum hielt, befand sie sich in einem Schwebezustand zwischen Angst und Erregung. Der Augenblick, wiederholte sie sich, nur der Augenblick zählt.
    Im Kerzenlicht erkannte sie eine Rattenfalle fünf Zentimeter von ihrem Fuß entfernt, etwas weiter eine zweite und eine dritte. Insgesamt war es sicher ein halbes Dutzend, und in einer steckte noch die Beute. Eine eigenartige Ratte mit spitzen Ohren … Als sie näher trat, sah Annabel, dass es ein Kätzchen war. Der kleine behaarte Körper war vom Druck des Metallbügels deformiert. Das Tier war schon seit längerer Zeit tot.
    Verdammt noch mal, konzentrier dich auf den Augenblick! Nicht auf deine Gefühle!
    Unter ihrem Fuß knarrte eine Diele.
    Wenn sie schon Lärm machte, dann richtig, sagte sie sich, legte die letzten Meter im Laufschritt zurück und trat in den Raum, den sie mit einem Blick durchmaß, um sicher zu gehen, dass sie allein war. Sie drückte sich mit dem Rücken an die Wand, damit sie nicht von hinten überrascht werden konnte. Innerhalb von zehn Sekunden begann ihr Herz zu rasen, und sie zwang sich, tief einzuatmen, um sich zu beruhigen.
    Das Summen kam von fünf Ventilatoren. Sie standen am Boden, und die an den Schutzgittern befestigten Fliegenfänger flatterten wie Dutzende verhedderter Windsäcke. Der Strom war nicht abgeschaltet, vielleicht wegen der beginnenden Bauarbeiten, dachte Annabel, außer der Bewohner der Örtlichkeiten wäre ein geschickter Bastler. Eine Pressspanplatte auf zwei Böcken diente als Tisch, der mit verschiedenen pinselähnlichen Instrumenten bedeckt war; daneben war eine Plastikbüste auf einem Sockel festgeschraubt, und lange Haarbüschel lagen sorgfältig aufgereiht neben einem Stück getrockneter Haut. Bei näherem Hinsehen stellte Annabel fest, dass die Haare an einem Holzstab hingen – sie trockneten zwischen den Ventilatoren und Kerzen.
    Ihr Atem ging jetzt stoßweise, sie hatte ihn nicht mehr unter Kontrolle. Mit einem unablässigen »Plopp« tropfte Wasser von der Decke.
    Der Fußboden gab erneut ein Knarren von sich, das diesmal nicht von der Polizeibeamtin ausgelöst worden war. An der Tür am anderen Ende des Zimmers huschte ein Schatten vorbei.
    Annabel entsicherte die Waffe, zielte und schlich in diese Richtung. Sie wusste nicht, ob der Mann sie gesehen hatte. Sie bewegte sich unter dem rieselnden Wasser hindurch, das ihr in die Augen spritzte und in kleinen Rinnsalen über Nacken und Rücken lief.
    Den Kopf zwischen die Schultern gezogen, die zu schmalen Schlitzen zusammengekniffenen Augen misstrauisch lauernd, betrat er den Raum. Das Chrom seines Revolvers glänzte im Licht der zuckenden Kerzenflammen, die sein Versteck erhellten. Annabel nahm die Szene im Zeitlupentempo wahr. Jede Bewegung schien aus kleinen Einzelteilen zu bestehen. Und selbst ihre eigene Stimme klang wie ein lang gezogener Schrei, als sie rief: » KEINE BEWEGUNG, POLIZEI!«
    Sie nahm die fließende Bewegung seiner Halsmuskeln wahr, als er den Kopf zu ihr umwandte, und das Lächeln, als er erkannte, dass es sich um eine Frau handelte. Die Zeitlupe veränderte die Geschmeidigkeit seiner Gesten nicht. Der zerstörerische Lauf der Pistole hob sich, sein Rachen geladen mit Tod, um seinen Inhalt auszustoßen. Nur das Geräusch des von der Decke tropfenden Wassers, das an eine nervtötende Kaskade erinnerte, blieb sonderbarerweise unverändert.
    Annabel drückte ab.
    Ein einziges Mal.
    Spencer Lynchs Schulter zerbarst, und Hunderte von dunklen Flecken erschienen augenblicklich auf den Wänden.
    Plötzlich beschleunigte sich die Szene wieder zu einem normalen Tempo. Der Mann brach am Boden zusammen, jetzt heulte auch seine Waffe auf, und im selben Moment rollte er sich in das Zimmer, aus dem er gekommen war. Annabel konnte nicht reagieren.
    Sie sah die Funkengarbe, während Gipsstücke ihre Wange trafen. Aus dem Gleichgewicht gebracht, ließ sie sich fallen, doch in ihrer Wut richtete sie ihre Beretta auf die Wand, hinter

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