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In Blut geschrieben

In Blut geschrieben

Titel: In Blut geschrieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maxime Chattam
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Ägypten, dort blieb ich ein halbes Jahr. Ich könnte Ihnen so wunderbare Dinge über dieses Land erzählen, über seine Bewohner, über Kairo und den Khan el-Khalili, den Nil, all die Reichtümer. Dort habe ich mich vergessen, dort konnte ich meinen Geist von all den schrecklichen Bildern, die mich heimsuchten, befreien. Ich war nicht mehr ich selbst. Eines Morgens nach einer Nacht intensiver Gespräche mit einem neuen Freund bin ich nach Gizeh aufgebrochen.
    Dort wohnte ich dem atemberaubenden Schauspiel des anbrechenden Tages über den Pyramiden bei, und das unermüdliche Ballett der Sonne über diesen viereinhalb Jahrtausend alten Relikten der Vergangenheit hat mir die Augen geöffnet. Der Wind hob eine Schicht Sand über den Dünen hoch und trug sie darüber hinweg, ein großartiger Anblick. Drei geometrische Königinnen, von Menschenhand geschaffen, erhoben sich dort und trotzten der Ewigkeit der Gestirne, und durch die Zeit, durch die Geschichte, sprachen die Menschen zu mir. Der Mut der Toten durchdrang den Sand dieser Wüste, und ich sah erneut Athen und die Akropolis, Carcassonne und seine Türme, die Erbauer und ihre Zeitgenossen. Der Stein sprach zu mir. Ich bin nach Kairo zurückgekehrt, und zwischen den Säulen von Ibn Tulun habe ich lange nachgedacht, um anschließend Abschied zu nehmen von den Gesängen der Minarette.«
    Seine Augen waren bei dieser Flut von Erinnerungen verschleiert. Und mit weniger fester Stimme fügte er hinzu: »Eine absolut filmreife Story.«
    Er fühlte sich außerstande, das Erlebte, all diese Verwandlungen, in passende Worte zu fassen. Er hatte die Spuren des Rades der Zeit im Stein gelesen. All diese Bruchstücke von Existenzen trugen in sich das Lachen, das Weinen von anonymen Wesen, und all dieser Staub schmerzte jetzt so in seiner Kehle, dass sein eigenes Schluchzen vergleichsweise weniger bitter klang. Doch er lebte im Hier und Jetzt und konnte es sich nicht erlauben, dieses einzigartige Recht auf Leben zu verwirken.
    Oregon hatte ihn wieder in seinen großen Reigen der Jahreszeiten aufgenommen, und Brolin – wenn auch gealtert und verletzt in seiner Arglosigkeit – war erneut ins kalte Wasser der Seen und Flüsse seiner Heimat gesprungen. Er war nicht geheilt von seinem Schmerz, nur gestärkt vom Wüstenwind und der Weisheit der Geschichte. Er hatte Frieden und seine Antwort gefunden: zu akzeptieren, dass es keine gab.
    »Ich bin Privatdetektiv geworden, weil Ermittlungen das sind, was ich am besten kann, denn erstaunlicherweise besitze ich die Gabe, mich in die kriminelle Natur eines Täters hineinzuversetzen. Ich habe beschlossen, dieses Talent nicht ungenutzt zu lassen, und stelle es in den Dienst derer, die es benötigen. Ich glaube, es gibt nichts Schlimmeres, als dass eines Tages ein geliebter Mensch verschwindet und man nicht weiß, was ihm widerfahren ist. Deshalb arbeite ich nur noch an Vermisstenfällen. Oft sind es Ausreißer, manchmal aber steckt auch ein Verbrechen dahinter. Ich liefere den Familien Antworten, selbst die schlimmsten, doch ich lasse sie nie im Ungewissen.«
    Als er seine Flasche geleert hatte, musterte er Annabel, die ihn mit einem eigenartigen Blick und halb geöffnetem Mund anstarrte. Sie blinzelte mehrmals und schien sich plötzlich zu erinnern, wo sie war und was sie hier tat.
    »Was soll ich sagen? Ich …«
    Die Worte erstarben auf ihren Lippen. Sie hätte ihm gerne so viele Dinge offenbart, diese aufkommende Vertrautheit genährt, diese Freundschaft. Sie hätte ihm gern von Brady, ihrem verschwundenen Ehemann, erzählt, davon, wie sie jedes Mal zusammenzuckte, wenn sie eine Tür schlagen hörte, von dieser irrsinnigen Hoffnung, er könnte es sein, von ihrer nächtlichen, schwer zu ertragenden Einsamkeit, von diesem Leben, das durch das ewige Warten so unerträglich war und ihr alle anderen Möglichkeiten verschloss. Brolins Worte und sein Gebaren hatten ihr gezeigt, dass er sie verstehen könnte, doch sie wusste, sie war außerstande, sich zu öffnen.
    Sein Blick war noch immer auf sie gerichtet, doch sie spürte darin keine Versuchung, kein Verlangen, als wäre er von all dem losgelöst und es bliebe nur Freundlichkeit.
    »Alles in Ordnung?«, fragte er.
    Annabel hielt den Flaschenhals fest umklammert und murmelte ein kaum wahrnehmbares »Ja«. Die Wellen brachen sich weiter vor ihren Füßen – eine unermüdliche Ehrerbietung an die Natur. »Ich hätte nicht gedacht, dass man von hier aus die Sterne sehen kann«, bemerkte Brolin.

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