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In Blut geschrieben

In Blut geschrieben

Titel: In Blut geschrieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maxime Chattam
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fröstelte im Wind. So viele Fragen. Was trieb diese Sekte? Warum und mit welchem Ziel wurden all diese Menschen entführt? Und warum war nur diese eine Leiche draußen gefunden worden? Die Ereignisse hatten sich innerhalb weniger Tage überstürzt, vielleicht hatte die Sekte beschlossen, ihre Vorgehensweise zu ändern und ihre Opfer an Ort und Stelle liegen zu lassen?
    Das bezweifelte sie. Nein, da war etwas anderes. Aber um das zu begreifen, musste man das Geheimnis der Sekte lüften.
    Was treiben sie genau?
    Plötzlich verstummte die Boje, so als wäre sie von einem riesigen Fisch verschlungen worden.

21
    Als Joshua Brolin die Atlantic Avenue hinunterging, um dann im feuchtwarmen U-Bahn-Eingang Richtung Manhattan South-West zu verschwinden, fielen nur noch vereinzelte Schneeflocken. Von seinem ersten New-York-Besuch hatte der junge Mann von der Westküste das Bild einer Insel, gespickt mit ultramodernen Wolkenkratzern, in Erinnerung – ein Stadtbezirk ohne Identität, nichts als reflektierende Glas- und Stahlkonstruktionen. Ganz anders der so genannte Meatpacking District, der Chelsea vom West Village trennte. Von der Größe einer Provinzstadt, ständig von Winden des Hudson River durchweht, besteht dieses Eckchen von New York hauptsächlich aus heruntergekommenen ein- oder zweistöckigen braunen Betonbauten, dazwischen hohe finstere Parkhäuser. Auf seinem Weg in Richtung Westen gelangte Brolin in ein noch trostloseres Areal mit grauen, leer stehenden Lagerhallen, acht bis zehn Stockwerke hoch, gewaltig wie Kathedralen – nazi-revival, wie er es gerne nannte.
    Er lief die 14th Street West hinauf, vorbei an Kunstgalerien, die so gar nicht in diese öde Landschaft passten, und er fragte sich, ob jemals ein Mensch einen Fuß hineingesetzt hatte. Der Schnee wurde vom Wind durch die Luft gewirbelt und behinderte mehr und mehr die Sicht. Hier zeugten die Graffiti von einem eigentümlichen, sicher sehr regen Nachtleben. Alle Öffnungen in den Häusern waren mit metallenen Gittern oder Rollläden versehen, die wenigen freien Flächen mit Konzertplakaten oder schriller erotischer Werbung beklebt. .
    Schließlich, an der Kreuzung Washington Street, entdeckte Brolin den Fleischgroßmarkt, der wie ein dunkler Schatten aus der Kälte auftauchte. Der Gebäudekomplex umfasste einen ganzen Häuserblock mit nur wenigen Fenstern, so dass der Rest blind blieb, der Welt durch roten Backstein verschlossen, der mit den Jahren schwärzlich geworden war. Brolin wunderte sich über die schicke Boutique gegenüber diesem finsteren Bau, doch war das nicht genau das Paradoxon von New York?
    Er überquerte die Straße und musste über mehrere kleine Eishaufen steigen, Eis, das nichts mit den winterlichen Temperaturen zu tun hatte und dessen rötliche Färbung das Schlimmste vermuten ließ. Über den gesamten Gehweg erstreckte sich eine eigenartige markisenähnliche Konstruktion, durchzogen von Schienen mit Seilwinden, an denen Haken hingen. Auf dieser Überdachung und den verrosteten Sicherheitstreppen hockten Scharen von Möwen. Einer dieser »Wasserspeier« stieß, als der Privatdetektiv auf seiner Höhe angelangt war, einen schrillen Schrei aus und flog auf, um sich mit seinen Artgenossen auf dem hinteren Teil einer Mülltonne niederzulassen. Vier Männer mit ehemals weißen Schürzen kippten den Inhalt von Plastikfässern hinein: alles, was die Tiergerippe an nicht Verwertbarem enthielten. Mehrere Tonnen organischer Abfälle wurden hier zur großen Freude der Fleisch fressenden Vögel ins Freie gebracht.
    Brolin trat auf einen der Männer zu und zeigte seinen Dienstausweis.
    »Guten Tag, ich suche Lucas Shapiro, wissen Sie, wo ich ihn finden kann?«
    Der Mann warf ihm einen wenig freundlichen Blick zu und hatte sichtlich Mühe, den Mund aufzumachen.
    »Da drin«, stieß er schließlich hervor. »Beim Zerlegen.«
    Ohne sich zu bedanken, steuerte Brolin auf einen der Eingänge zu. Statt einer Tür gab es einen Vorhang aus Plastikstreifen, der an einen versteinerten Wasserfall erinnerte. Brolin trat in einen schmalen Gang mit Wänden aus Metallplatten und einer auffallend niedrigen Decke, deren einzige Beleuchtung aus einer Reihe nackter Birnen bestand. Irgendwo summte eine starke Lüftung, was allerdings nichts daran änderte, dass Brolin sofort den Geruch kalten Fleisches wahrnahm, den Geruch nach Tod, Eingeweiden und Blut, der sich sofort in den Kleidern festsetzte und an den Schleimhäuten kleben blieb. Der tägliche Aufmarsch von

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