In Blut geschrieben
nachlässig zu handeln und den Tatort abzusichern. In vielen Fällen schien es ihnen das Wichtigste, die Leiche so bald wie möglich wegbringen zu lassen. Doch trotz seines guten Willens hatte Harry Doubsky die Dinge nur halb gemacht. Die Sperrzone war viel zu klein, und er hätte allen nicht unmittelbar mit der Untersuchung Betrauten den Zutritt untersagen müssen. Das war das Problem in den Kleinstädten, wo Morde eine Seltenheit waren und alle Cops der Umgebung zusammenkamen, um sich die Sache anzusehen, und dabei natürlich die Spuren verwischten.
»Wie sind Sie bei der Untersuchung des Tatorts vorgegangen – kreis- oder rasterförmig? Letzteres wäre bei einem so großen Areal sinnvoller.«
»Äh … ich habe mir die Umgebung mit meiner Taschenlampe angesehen.«
Bei der Vorstellung, dass alle anwesenden Polizisten seit nunmehr drei Stunden den Boden zertrampelten, wurde ihr klar, dass es keinen Sinn hatte, noch einmal von vorne anzufangen. Fußabdrücke, Zigarettenkippen und andere Indizien wären unmöglich zu identifizieren.
Sie wandte sich wieder der Leiche zu. Diesmal konzentrierte sie sich auf die Details und versuchte, von dem Individuum zu abstrahieren. Sie bemerkte sofort, dass man den Schnee unter dem Körper weggefegt hatte, ja, schlimmer noch, man hatte die Konturen des Opfers mit Kreide auf den Felsen gezeichnet. »Die Kreidefee«, murmelte sie. Das sagte man, wenn niemand mehr wusste, wer die Linie gezeichnet hatte. Oft fand sich am Schauplatz des Verbrechens ein eifriger Cop, der geradezu zwanghaft die Konturen des Opfers nachzeichnete, so wie er es aus Krimis kannte.
»Wer hat das gemacht?«, fragte sie, auf die Linie deutend.
»Ich, warum?«
»Das war ein Fehler. Haben Sie Fotos aufgenommen?«
»Ja, von allen Seiten.«
»Mit den Kreideumrissen?«
Doubsky nickte schuldbewusst.
»Verdammter Mist. Bei einem möglichen Prozess könnte die Verteidigung geltend machen, dass die Fotos keine exakte Wiedergabe des Tatorts sind, weil die Polizei ihre Markierungen angebracht hat. Das heißt, die Fotos sind als Beweismittel unzulässig.«
Doubsky trat verlegen von einem Fuß auf den anderen.
»Die Umrisse werden nur im Notfall aufgezeichnet, nämlich dann, wenn die Leiche vor der Untersuchung entfernt werden muss und es keine Alternative dazu gibt«, fuhr sie fort, »und vor allem macht man die Fotos vorher.«
»Das wusste ich nicht.«
Annabel ging nicht weiter darauf ein und drehte sich einmal langsam im Kreis. Sie winkte Doubsky näher heran.
»Haben Sie die Nachbarn befragt?«
Völlig eingeschüchtert schüttelte er den Kopf.
»Dann fangen Sie mit dem Haus an, da brennt Licht.«
»Warum gerade mit diesem?«
»Es ist das einzige, das direkt dem Fundort zugewandt ist. Vielleicht hat jemand heute Nacht etwas gesehen, wir dürfen nichts vernachlässigen.«
Doubsky presste die Lippen zusammen. Er schien sich für seine Fehler zu schämen. Als er sich zum Gehen wandte, rief Annabel ihn zurück: »Harry, Sie haben die besten Absichten, Sie brauchen nur eine kleine Hilfe. Suchen Sie sich ein gutes Handbuch zur Tatortanalyse, dann werden Sie ein super Cop, okay?«
Harry nickte. Er fühlte sich schon etwas besser, als er sich auf den Weg machte.
Langsam wurde es hell über dem Sound; weißer Nebel stieg über der dunklen Wasserfläche auf.
»Gut, dass Sie ihn beruhigt haben«, bemerkte Ed Foster. »Harry ist ein prima Kerl, er braucht nur etwas Anleitung.«
»Ich tue niemandem gerne weh, auch wenn er es verdient hat.«
Annabel zog ein Gummi aus ihrem Blouson und band ihre Zöpfe im Nacken zusammen, dann beugte sie sich über das Opfer, um die genaue Lage zu untersuchen.
»Woran ist sie gestorben?«
»Strangulation. Sehen Sie.«
Foster neigte sich über das Gesicht der jungen Frau. Es war hager, mit hohen Wangenknochen, die Augen waren tief in die Höhlen gesunken. Das Gesicht war von starken dunkelvioletten Ekchymosen, blutunterlaufenen Quetschungen, entstellt, doch sie war gestorben, bevor das Gesicht hatte anschwellen können. Der Coroner streifte ein Paar Handschuhe über und zog das Augenlid hoch. Das Auge war ungewöhnlich flach und im Stadium der Desquamation; die Pupille war oval verformt, und ein langer roter Streifen zog sich über die Hornhaut.
»Eine Bindehaut-Ekchymose – ein Anzeichen für den Erstickungstod«, erklärte der Coroner. »Und hier, die kleinen bogenförmigen Erosionen am Hals, das sind die Nagelabdrücke des Täters. Nach der Autopsie kann ich Genaueres
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