In Blut geschrieben
sagen, doch ich denke mal, dass er sie von hinten erdrosselt hat.«
Annabel, die sich über die Leiche beugte, bemerkte die zahlreichen, wenn auch blassen Flecken auf dem Oberkörper. Kleine dunkle Male unter der Haut.
»Was ist das?«, fragte sie und deutete mit dem Finger auf eines davon.
Der Arzt hielt ihre Hand zurück.
»Wenn Sie sie berühren wollen, ziehen Sie vorher lieber Handschuhe an. Ich denke, bei diesen Flecken handelt es sich um Kaposi-Sarkome.« Er sah Annabel durchdringend an. »Im Allgemeinen findet man diese Sarkome bei HIV-infizierten Patienten, Detective O’Donnel. In Anbetracht der Umstände sollten wir vorsichtig sein.«
Er ließ Annabels Handgelenk los.
»Haben Sie eine Vorstellung vom Tathergang?«
Ed Foster zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß nicht recht. Ich bin mir unsicher. Man könnte auf ein Sexualverbrechen tippen, das Werk eines Verrückten, aber ich habe auch eine andere Hypothese … Sehen Sie hier, diese Einkerbung auf beiden Seiten des Oberkörpers.«
Tatsächlich sah Annabel eine feine weiße Linie, die sich beidseitig von der Hüfte bis zur Achsel zog.
»Das ist eine Naht, die sich nach dem Tod in die Haut gedrückt hat. Diese Frau trug ein eng anliegendes Oberteil. Und dann hier.«
Er legte den behandschuhten Finger auf das Brustbein und fuhr bis zum Bauchnabel hinunter. Die Haut war mit einem feinen Schnitt durchtrennt worden, an den weißen Wundrändern sah man die verschiedenen Schichten. Auch wenn der Schnitt lang war, fiel er doch nicht sonderlich auf, und es waren keine Blutspuren zu sehen.
»Sie war schon eine gute Weile tot, als er das getan hat: Die Wunde hat nicht geblutet, das heißt, das Herz schlug nicht mehr. Ich vermute, der Mörder hat ihr Oberteil mit einem Messer oder etwas Ähnlichem aufgeschnitten. Dabei hat er auch die Haut verletzt.«
Der Coroner schnalzte mit der Zunge.
»So sehe ich die Dinge: Der Kerl greift die Frau an und vergewaltigt sie. Vermutlich hat er ihr nur die Hose ausgezogen. Dann, ich weiß nicht genau wie, wahrscheinlich, weil er ihre Brüste berühren will, entdeckt er die Flecken. Er sagt sich, dass er es mit einer Kranken zu tun hat, und wird wütend. Er schlägt ihr ins Gesicht, sie fällt, und er erwürgt sie. Dann beschließt er, getrieben von Rachegefühlen, ihre Genitalorgane zu verbrennen. Ehe er geht, schneidet er ihr Oberteil auf und wirft es weg. Natürlich sind das ohne Autopsie nur reine Vermutungen, in einigen Stunden werde ich Ihnen vielleicht das Gegenteil bestätigen.«
Annabel nickte zufrieden, sie wusste sein Vorgehen zu schätzen, denn die meisten Coroner oder Gerichtsmediziner hüteten sich davor, irgendwelche Vermutungen preiszugeben, solange sie nicht über Fakten verfügten.
»Und die Tätowierung?«
»Ach ja!«
Er versuchte, den Kopf des Opfers anzuheben, doch wegen der Leichenstarre musste er den ganzen Körper auf die Seite drehen. Am Nackenansatz war ein Strichcode zu sehen. Durch das verkrustete Blut war er nur schlecht zu erkennen.
»Merkwürdig«, räumte Foster ein. »Das ist noch nicht alt, absolut nicht vernarbt. Man hat ihr die Schnitte frühestens einige Stunden vor ihrem Tod beigebracht. Mehr können wir erst nach der zytologischen Untersuchung sagen.«
»Werden Sie die Autopsie bald vornehmen?«
»Heute Nachmittag. Ich schicke Ihnen dann eine Kopie des Berichts.«
Sie erhoben sich. Der Himmel wurde immer heller, bald würden die Scheinwerfer überflüssig sein.
»Können wir die Leiche jetzt abtransportieren?«, erkundigte sich der Coroner. »Sie liegt schon ziemlich lange hier, und es wäre besser, wenn die Sonne über etwas Erfreulicherem als einer Toten aufgeht.«
Annabel kletterte auf den höchsten Felsen und ließ den Blick über die faszinierende Fläche des Sounds gleiten. Die Boje gab weiter ihr langsames Ding-Ding v on sich.
»Fragen Sie den Sheriff, für mich ist es in Ordnung. Er muss bei Detective Thayer sein.«
Ihr Blick folgte dem Coroner, der langsam zum Park zurückging, und fiel dann auf die athletische Gestalt von Brett Cahill, der sich mit den örtlichen Polizisten unterhielt. Auch er schien keine Zeit zu verlieren.
Am Horizont zeichnete sich das gegenüberliegende Ufer als schwarze Linie ab. Andere Häuser, andere Leben, in weiter Ferne, kaum auszumachen. Und irgendwo ein Mörder. Nicht einer, sondern mehrere, korrigierte sich Annabel. Eine gnadenlose Meute.
Die Tätowierung war mit denen auf den Fotos identisch, daran bestand kein Zweifel.
Annabel
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