In Blut geschrieben
steif dem verblassenden Mond entgegengestreckt. Man hätte sie nur umdrehen müssen, und sie hätte auf allen vieren gestanden. Das war auf die Leichenstarre und ihre Position beim Eintritt des Todes zurückzuführen. Die Natur liebt das Groteske, das, was Film und Literatur gern vergessen, die den Tod meist mit Taktgefühl, Diskretion und Würde darstellen. Purer Antagonismus im Fall eines gewaltsamen Todes.
Annabel trat näher. Sie stellte sich vor, wie die Frau um ihr Leben gekämpft hatte, die Arme ausgestreckt, die Beine angezogen, um sich zu schützen, alle Muskeln vor Schmerz und Angst gelähmt.
Die Leichenstarre wurde durch den Aufenthalt im Schnee verlängert, vielleicht war sie schon viel länger tot, als die in diesem Stadium des rigor mortis angenommenen fünfzehn bis vierundzwanzig Stunden. Annabel, die jetzt nur noch einen Meter von der Leiche entfernt war, hockte sich hin.
Plötzlich wurde ihr fast übel.
Ihre Finger! Sie sind in die Handflächen gepresst! Und sie haben keine Nägel mehr!
Der Coroner Ed Foster ging um die Tote herum und wäre auf dem glatten Schnee fast ausgerutscht und gestürzt. Doch er konnte sich gerade noch fangen und reichte ihr den vorläufigen Untersuchungsbericht.
»Man hat ihr die Nägel ausgerissen«, erklärte er, »wahrscheinlich mit einer Zange, ein äußerst brutales Gemetzel.«
Der Coroner sah Annabel an und schien zu zögern. Er war eher klein, hatte eine Glatze und trug eine schmalrandige Brille.
»Sagen Sie, haben Sie einen soliden Magen? Denn das Schlimmste kommt noch«, sagte er und deutete mit seinem Stift zwischen die Beine des Opfers.
Annabel atmete tief durch.
Ding-Ding … Irgendwo läutete eine Glocke die Totenmesse.
Im gnadenlosen Licht der Halogenscheinwerfer wanderte Annabels Blick über die kalten Beine bis hin zu den Oberschenkeln, wo die Haut plötzlich dunkelrot wurde, dann mit Blasen übersät war und schließlich schwarz wurde. Verkohlt.
Man hatte ihr den Genitalbereich verbrannt, der Venushügel war zerschmolzen, und aus dem After sickerte noch ein wenig Wundflüssigkeit.
Diesmal wandte sich Annabel ab und erbrach sich. Harrison Doubsky reichte ihr ein Papiertaschentuch.
»Uns ist es nicht anders ergangen«, gestand er schüchtern, um sie zu trösten.
Als sie sich wieder aufrichtete, ruhte Thayers fragender Blick auf ihr. Sie atmete tief durch und beruhigte ihn mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken. Alles in Ordnung.
Eine Redensart. Dieses Mädchen war verstümmelt worden, und nichts konnte in Ordnung sein, wenn man an einem solchen Fall arbeitete.
Sie wischte sich noch einmal nervös über den Mund.
Denk nicht an den Menschen. Nicht jetzt, konzentrier dich auf die Fakten, einzig und allein auf die Fakten. Keine Projektion, nur das Konkrete, finde Indizien oder wenigstens Anhaltspunkte, also keine Emotionen, verstanden?
Für einen kurzen Augenblick dachte sie an Brolin. Die Profiler machten genau das Gegenteil. Man gab ihnen Fakten an die Hand, und sie versetzten sich in das Opfer, dann in den Mörder – also vollständige Empathie. Sie fragte sich, wie man das aushalten konnte, und begriff, warum die FBI-Profiler nie lange in ihrem Beruf tätig waren.
»Wo ist der Junge, der die Leiche gefunden hat?«, fragte Thayer.
Sheriff Williamson deutete auf das Areal hinter dem Park.
»Zu Hause. Zwei meiner Männer sind bei ihm, sie haben seine Aussage aufgenommen und überwachen seinen Zustand. Es war natürlich ein Schock für ihn.«
»Bringen Sie mich hin. Wenn Sie wollen, können wir zusammen über das alles sprechen«, erklärte Thayer und legte dem Sheriff die Hand auf die Schulter.
Im Gehen warf er seiner Kollegin einen kurzen Blick zu, den diese mit einem Nicken beantwortete. Wie immer kümmerte sich Jack um die Verhöre und sie um die Indizien, um die praktische Arbeit. Sie wandte sich an Doubsky, der mit seinem Paket Taschentüchern in der Hand etwas verlegen dastand.
»Um wie viel Uhr waren Sie hier?«, fragte sie.
Ein Anflug von Stolz blitzte in den Augen des jungen Mannes auf, als er sein Notizbuch aus der Tasche zog.
»Ich habe alles chronologisch festgehalten«, erklärte er. »Meine Ankunftszeit, die des Sheriffs, die des Coroners, nichts fehlt. Ich habe auch den Tatort gesichert. Und ich habe mir Notizen über alles gemacht, was ich hier entdeckt habe.«
Großartig, dachte Annabel, wenn sich die Cops Notizen machten, bedeutete das, dass sie sich Zeit ließen, sich alles in Ruhe ansahen, statt schnell und oft
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