In Blut geschrieben
ihren Augen ablesen konnte, dass jeder von ihren Lügen wusste.
Am Tatort fühlte sie sich zuerst äußerst unbehaglich, doch das schlechte Gewissen verflog recht bald. Sie wunderte sich, dass ihre Aktivitäten völlig ungestraft blieben, und schöpfte neuen Mut. Bevor Brolin ging, hatten sie noch einmal über den aktuellen Stand ihrer Ermittlungen gesprochen. Der Privatdetektiv hatte gehofft, dass die Leiche rasch gefunden wurde, damit die Schwester noch befragt werden konnte, bevor sie nach Hause kam und erfuhr, was passiert war. Sie würde sonst vielleicht untertauchen.
Als Annabel ankam, standen zwei Beamte neben Janine Shapiro, die ziemlich verstört wirkte. Man konnte nicht sagen, ob ihr Blick Trauer oder Erleichterung ausdrückte.
Annabel ging in den ersten Stock, um sich die Fotos anzusehen, die Lucas Shapiro hinter der Schiebewand angebracht hatte. Brett Cahill stand davor.
»Spencer Lynch benutzte Polaroids, Lucas Shapiro hat seine Fotos selbst entwickelt – hier der Beweis. Bleibt nur noch, die Herkunft der digitalen Aufnahmen zu klären«, erläuterte er. »Im Vergleich zu den Fotos, die wir bei Lynch gefunden haben, fehlt hier das Bild von Julia Claudio. Ich glaube, dass Lynch keine Zeit hatte, es weiterzugeben. Andererseits haben wir hier noch ein weiteres Foto gefunden.«
Er zeigte auf eines der Bilder. Es war das Mädchen, das Annabel am Fleischerhaken aufgehängt gesehen hatte.
»Das ist sein letztes Opfer, offenbar ganz frisch«, fuhr Cahill scheinbar teilnahmslos fort. »Wir haben in der Garage auch einen Schweißbrenner gefunden und Instrumente, mit denen man Tätowierungen macht. Thayer ist sicher, dass er der Mörder des Junkie-Mädchens war, das wir gestern in Larchmont gefunden haben.«
Annabel begriff allmählich.
»Er wollte das unreine Mädchen ersetzen.«
»Was?«
Cahill drehte sich um und blickte sie verständnislos an. Langsam erklärte sie: »Lucas Shapiro hat vor einigen Tagen ein Mädchen entführt. Es stellte sich aber heraus, dass sie krank war. Das passte ihm nicht, sie war unrein oder so, also hat er sie ›entsorgt‹. Ihretwegen hat er seine Strategie geändert, sie war ihm nicht der Mühe wert. Deshalb hat er sie einfach fallen lassen. Er musste aber auch seine Triebe befriedigen oder vielleicht ein besonderes Ritual erfüllen, was weiß ich. Also musste er schnell ein anderes Mädchen entführen, und das haben Sie in der Garage gefunden.«
»Ja, das wäre möglich.«
»Noch was anderes?«
»Diese Skizze dort. Die drei Namen, die wir schon kennen: Spencer, Lucas und Bob, darunter Caliban. Das könnte unsere Vermutungen bestätigen: Es sind drei. ›Denn Caliban ist unsere Philosophie‹. Die sind doch nicht ganz dicht, oder?«
»Nur dass ›Bob‹ in Großbuchstaben geschrieben wurde«, fügte Annabel hinzu, »und in der Mitte steht. Vielleicht weil er der Anführer ist.«
»Sieht so aus. Schauen Sie, wir haben auch noch diese Unterlagen gefunden, auf der einen Seite steht die Namensliste seiner Opfer, sechzehn insgesamt. Auf der anderen ist die Rede von einem Tempel. Und von I.dW. Wir werden hier alles durchkämmen und auseinander nehmen, bis wir herausgefunden haben, was es bedeutet.«
Annabel dachte wieder an das, was Brolin ihr am Vormittag anvertraut hatte. Sie wusste, dass der Terminkalender Informationen zu I.dW. enthielt, durfte es aber nicht sagen, ohne Verdacht zu erregen. Aber sie würden ihn ohnehin bald finden.
Sie ging die Treppe hinunter und traf auf Jack Thayer und Bo Attwel, die bei Janine Shapiro standen. Sie war sehr klein, hatte ein hageres Gesicht und Hände wie eine Puppe, eine alte Puppe. Ihre schwarzen Augen starrten ins Leere, ohne auch nur einmal zu blinzeln.
»Haben Sie eine Ahnung, was das für Fotos sein könnten, da oben?«, fragte Thayer mit fester Stimme.
Sie reagierte nicht.
Bo Attwel drehte sich zu Annabel um und zog sie ein wenig beiseite.
»Wahnsinn, hast du ihre Hände gesehen?«, fragte er. »Ich wette um zehn Dollar, dass sie das Mädchen von Larchmont erwürgt hat. Ich habe den Autopsiebericht gelesen, eine echte Sauerei! Möglicherweise hat der Bruder die Mädchen angeschleppt, und sie hat sie schließlich umgebracht. Stell dir das mal vor? Das ist wie Addams Family. Eigentlich noch schlimmer.«
Der Gegensatz zwischen seinen schwarzen Augenbrauen und dem grauen Haar wurde durch den schwachen Sonnenstrahl, der durchs Fenster hereinfiel, noch hervorgehoben.
»Weiß man schon, wie das mit Shapiro passiert ist?«,
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