In Blut geschrieben
fast erschreckend in seiner Abgeklärtheit. Sie starrten einander an.
Annabel senkte die Augen zuerst, ihre Wut verebbte bei der Intensität des Blicks, der sie nicht losließ.
»Ich habe lange so gedacht wie Sie«, erklärte Brolin langsam mit weicher Stimme. »Ich habe in der Ausbildung beim FBI gelernt, Akten über die grausamsten Morde zu lesen, mich trotz Entsetzen und Grauen in einen Mörder hineinzuversetzen. Und ich galt als besonders begabt. Leben Sie erst einmal jahrelang mit diesen Bildern im Kopf, dann können Sie mitreden. Und eines Tages verlieren Sie einen geliebten Menschen, und dann erst verstehen Sie, dass Einsamkeit ein abgrundtiefes schwarzes Loch ist.«
Annabel fröstelte, fühlte sich plötzlich sehr betroffen. Mitgefühl ergriff sie, stärker als ihre Wut.
»In den letzten beiden Jahren«, fuhr Brolin fort, »habe ich für zutiefst zerrissene Familien gearbeitet, mit dem einzigen Ziel, Antworten auf ihre Fragen zu finden. Zweimal kreuzte mein Weg den der Kidnapper, Vergewaltiger, und einer von ihnen war sogar ein Mörder. Und wissen Sie, was das Schwierigste war? Sie der Justiz auszuliefern, zu akzeptieren, dass sie verurteilt werden, dass ihnen die Gesellschaft aber eines Tages vergeben und sie wieder auf freien Fuß setzen könnte. Ich wollte sie umbringen, aber ich habe es nicht getan. Nicht aus Barmherzigkeit oder so einem Quatsch, sondern weil ich nicht den Mut dazu hatte. Was heute Morgen passiert ist, macht mir überhaupt nichts aus, das kann ich Ihnen sagen. Es geschah im Eifer des Gefechts. Enttäuscht bin ich nur, weil er alle seine Geheimnisse mitgenommen hat.«
Kein Strahlen war mehr in seinem Blick, keinerlei Leidenschaft oder Begeisterung, es war lediglich eine Feststellung. Er schloss die Lippen, das Gesicht entspannte sich, erschütterte die kalte Schönheit seiner Gleichgültigkeit. Eine Aura der Kraft umgab seinen Körper, eine hypnotische Macht wie elektrischer Strom, der sich in winzigen Blitzen entlud. Ein ruhiger und überlegter Charakter, eingehüllt in überschäumende Geistesgegenwart. Annabel erschauerte bei dem plötzlichen Impuls, eine Hand auf diese Haut zu legen, sich anzuschmiegen und – der Gedanke überraschte sie selbst – nackt an ihn zu drücken. Seine Wärme in sich zu spüren. Gänsehaut überlief ihre Arme.
Was war mit ihr los? Ebenso rasch, wie das Verlangen aufgetaucht war, verschwand es wieder. Sie war ein Mensch aus Fleisch und Blut, und obwohl sie Brady liebte, hatten ihre Bedürfnisse kurzfristig die Oberhand gewonnen. Später würde sie sich über diese seltsame Anwandlung ärgern, aber war nicht dieses »abgrundtiefe schwarze Loch der Einsamkeit«, von dem Brolin gesprochen hatte, daran schuld?
Brolin drehte sich auf dem Absatz um und ging ins Wohnzimmer.
Eine Stunde später folgte sie ihm. Gemeinsam betrachteten sie die Skyline von Manhattan, die den grau-weißen Horizont dominierte. Es war Annabel, die noch einmal auf das Thema zurückkam: »Ich weiß, dass Sie nicht aufhören werden, trotz allem was passiert ist – Sie geben nicht auf.«
Er schwieg, verharrte reglos auf dem Sofa. Durch die von einer dünnen Schneeschicht bedeckte Glaskuppel über ihnen drang eine kristallene Helligkeit. Sie fuhr fort: »Ich werde Ihnen helfen. Ich mache Kopien von allem, was wir haben. Sie haben dann zu sämtlichen Unterlagen Zugang und können nach Ihrer eigenen Methode vorgehen. Dafür möchte ich, dass Sie mich über alles informieren, was Sie herausfinden, Gedanken, Vermutungen, alles. Ich möchte, dass die ganze Bande verhaftet wird, vor allem dieser Bob. Wir arbeiten Hand in Hand, in gegenseitigem Vertrauen.«
Sie wandte sich um, schaute ihn an. Er nickte bedächtig.
»Ich habe Ihnen vom ersten Tag an vertraut«, meinte er schließlich.
Freundschaftlich legte er die Hand auf die der jungen Frau.
30
Die Nachricht verbreitete sich bereits am frühen Nachmittag. In einem Sektor, in dem sich die Anwohner über Knallkörper oder Schüsse beschwert hatten, hatte man die Leiche eines Mannes entdeckt. Bei der Durchsuchung seines Hauses fanden die Polizisten in der Garage noch eine weitere Leiche, eine Frau. Und versteckte Fotos im Haus. Die Sonderkommission des 78. Reviers wurde eingeschaltet.
Es war Jack Thayer, der Annabel darüber informierte. Der Tote sei Lucas Shapiro, eventuell ein Mitglied der Sekte. Schon bei den ersten Worten musste Annabel gegen ein heftiges Schuldgefühl ankämpfen. Sie hatte den Eindruck, dass jeder die Wahrheit von
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