In Blut geschrieben
fragte Annabel so unbeteiligt wie möglich.
»Noch nicht. Er ist erschossen worden. Kein Augenzeuge, nichts. Die Schwester weiß auch nichts, zumindest sagt sie nichts. Höchstwahrscheinlich war es einer der anderen Verrückten aus der Caliban-Gruppe, der eine alte Rechnung zu begleichen hatte. Uns kann es nur recht sein. Das ist wie ein Geschenk des Himmels. Wenn wir diese Hütte hier ordentlich umkrempeln, finden wir vielleicht eine Spur, die uns zu Bob führt. Wir haben Fußabdrücke im Schnee entdeckt, und auch das Kaliber der aufgefundenen Kugeln kann uns möglicherweise weiterhelfen. Ein Zeuge ist allerdings noch nicht aufgetaucht.«
Wenn du wüsstest, dachte Annabel. Sie bedankte sich hastig und ging. Ihr war übel, sie hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Doch mit der Zeit ließen ihre Schuldgefühle nach, und sie ging noch ein paarmal zwischen allen Fundstellen hin und her. Falls man später eine Spur ihrer Anwesenheit hier finden sollte, vielleicht ein Haar oder ähnliches, wäre das nur normal. Während sie den anderen bei der Spurensuche zusah – die einen durchwühlten die Unterlagen, die anderen inspizierten das kleine Fotolabor im Keller oder untersuchten die Leiche in der Garage –, atmete sie allmählich wieder ruhiger. Ihre Kollegen konzentrierten sich mehr auf diesen unerwarteten Fund und auf Indizien im Zusammenhang mit dem Caliban-Kult als auf die Motive des Täters, die für sie offenbar schon feststanden. Sie würden keine Zeit mit diesen Fragen verlieren. Annabel hätte gerne die Kugel, die sie in der Garage aus ihrer Beretta abgefeuert hatte, an sich genommen, hielt es jedoch für zu gefährlich. Auf jeden Fall bestand überhaupt kein Anlass, einen ballistischen Vergleich mit einer Kugel aus ihrer Waffe durchzuführen, denn niemand hatte sie am frühen Morgen hier gesehen.
Janine Shapiro sagte kein Wort. Nach einer Stunde verfrachtete man sie in den Streifenwagen. Annabel half noch bei der Suche nach weiteren Indizien, bevor sie ins Revier zurückkehrte. Während sich Cahill und Attwel mit der Auswertung der bei Shapiro beschlagnahmten Gegenstände befassten und Thayer Janine verhörte, machte sie selbst Kopien von allem, was sie bis jetzt vorliegen hatten. Einer der Jungs, die an den Fotos von den Tatorten arbeiteten, war gerade erst in ihr Revier versetzt worden und warf Annabel schmachtende und zugleich schüchterne Blicke zu. Es war ein Leichtes, ihn zu überreden, von den siebenundsechzig Fotos, die bei Lynch gefunden worden waren, rasch Zweitabzüge herzustellen. Inzwischen belegte sie eines der Kopiergeräte, obwohl sie jedes Mal zusammenzuckte, wenn sie Schritte im Flur hörte.
Brolin hatte in kürzester Zeit wichtige Erkenntnisse erzielt, und mit seiner Art, die Ermittlungsergebnisse zu analysieren, konnte er interessante Zusammenhänge herstellen. Die junge Frau verstand nun, warum sich die örtlichen Polizeidienststellen manchmal an das FBI und dessen Spezialagenten, die Fallanalytiker, wandten. Sie wusste aber auch, dass sich Woodbine nie für diesen Weg entscheiden würde, denn er und seine Vorgesetzten wollten die Sache um jeden Preis selbst und ohne Unterstützung der Federals, die sämtliche Medien und finanziellen Mittel für sich beanspruchten, lösen.
Am frühen Abend nahm Annabel den Karton mit den Kopien und ging zur Treppe, innerlich betend, es möge ihr niemand aus der eigenen Abteilung begegnen. Sie erreichte ihr Auto ohne Probleme und seufzte erleichtert, als sie den Motor anließ.
*
Bei Einbruch der Nacht waren die Wolken verschwunden, und der Mond schien durch die Glaskuppel über dem Wohnzimmer. Annabel hatte alle persönlichen Fotos von sich und Brady abgenommen und durch siebenundsechzig Gesichter des Grauens ersetzt. Die Berichte lagen ausgebreitet auf dem Couchtisch. Ernst und konzentriert las Brolin einen nach dem anderen durch. Er hatte sich beim Lesen Notizen gemacht und saß nun zurückgelehnt auf dem Sofa, das südamerikanische Plaid fiel ihm halb über die Schultern. Es war fast Mitternacht, sie hatten sich eine Pizza kommen lassen, weil sie sich keine Pause bei der Auswertung der Akten gönnen wollten.
»Und dieser Thayer, ist er gut bei Vernehmungen?«
»Wenn Janine Shapiro etwas weiß, kriegt er es aus ihr heraus«, erklärte Annabel mit mehr Zuversicht, als sie eigentlich empfand. »Vorausgesetzt, er kann sie überreden, nicht sofort einen Anwalt einzuschalten, doch bei diesem Spiel ist er besonders gewieft.«
Die Augen vor
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