In Blut geschrieben
Müdigkeit gerötet, saß sie Brolin gegenüber auf einem Stuhl.
»Sie weiß garantiert etwas«, erwiderte der Privatdetektiv. »Sie arbeitet bei einem Reinigungsunternehmen, das vor allem im Pfarrbezirk von St. Edwards tätig ist, zu dem sie selbst auch gehört. Sie war es, die die Fenster mit Blut beschmiert hat.«
»Warum hätte sie das tun sollen?«
»Das muss sie uns sagen, ich denke, es ist eine Art Buße, denn in gewisser Weise ist sie auch ein Opfer ihres Bruders. Er hat sie unterdrückt, tyrannisiert, versklavt. Die Antwort muss Thayer aus ihr herauskitzeln.«
Er legte die Hände auf die Knie, saß völlig aufrecht auf dem Sofa.
»Sie glauben, dass die Sekte aus drei Mitgliedern besteht«, fuhr er fort. »Richtig?«
»Ja, eine bloße Vermutung. Alles, was wir bei Spencer Lynch gefunden haben, wies auf die drei hin, angefangen mit den Fotos« – Annabel warf einen kurzen Blick hinüber –, »die in drei ›Gruppen‹ von jeweils drei, fünfzehn und neunundvierzig Bildern angeordnet waren. Wie sich herausstellte, zeigten die ersten drei Fotos Lynchs Opfer, und heute bei … Lucas Shapiro haben wir die gleichen Fotos gefunden, fünfzehn davon zeigen sicher seine eigenen Opfer. Es gab sogar noch ein sechzehntes Bild, von dem Lynch keinen Abzug bekommen hatte.«
»Wenn ich Ihren Argumenten folge, bleiben nur noch ein einziger Mörder und seine neunundvierzig Opfer übrig«, murmelte Brolin.
»Beweise haben wir noch nicht, vielleicht waren es auch mehr Mörder. Bis jetzt passt jedenfalls die Hypothese von drei Tätern. Wenn das stimmt, dann wäre Bob der letzte.«
Brolin hob die Schultern, um zu zeigen, dass er dazu nichts sagen konnte.
»Gehen wir die Zusammenhänge noch einmal durch«, fuhr er fort. »Spencer Lynch ist zuletzt zur Gruppe gestoßen, es war Shapiro, der ihn im Gefängnis rekrutiert hat. Er muss wohl geahnt haben, dass Lynch ähnlich fühlt und handelt wie er selbst. Mit der Zeit sind sie sich dann wohl näher gekommen, haben sich Geheimnisse anvertraut, und er hat den ›Kleinen‹ aufgenommen. Sie haben einen Treffpunkt oder Übergabepunkt ausgemacht. Was die Caliban-Sekte Spencer Lynch mitteilen wollte, wurde in einem Umschlag, der unter eine Kirchenbank in St. Edwards geklebt wurde, übermittelt. So konnten sie gefahrlos miteinander kommunizieren. Man könnte wirklich meinen, dass dieser Bob die Fäden in der Hand hält, denn er schrieb Lynch: Jetzt musst du lernen, zu werden wie wir.‹ Und er war es auch, der die Karte unterschrieben und ihm erklärt hat, was er tun muss, um zur Familie zu gehören.«
Er beugte sich zum Couchtisch vor, um die Akte der Opfer und sein Notizbuch aufzuschlagen.
»Wie wollen Sie jetzt vorgehen?«, fragte er.
»Es gibt zwei Teams: Attwel, Collins und die beiden Detectives von der Zentrale befassen sich mit den Opfern, ihren Personalien, ihrem Verschwinden … Thayer, Cahill und ich kümmern uns um die Auswertung der Indizien. Die fünf anderen Detectives dürften in den nächsten Tagen zu uns stoßen. Offenbar Leute aus Manhattan, das kann auf keinen Fall schaden. Wir allein schaffen es nicht, in der kurzen Zeit alles auszuwerten. Hinzu kommen noch die Polizisten, die wir da und dort brauchen. Außerdem unterstützen uns alle anderen New Yorker Reviere, leiten ihre Unterlagen an uns weiter, wenn sich herausstellt, dass eines der Opfer aus ihrem Sektor stammt. Die Ermittlungen laufen erst seit sechs Tagen, seit Lynchs Verhaftung.«
»Haben Sie alles über die Viktimologie studiert?«
Sein Ton verriet, dass er Zweifel hatte.
»Hm, na ja, es ist Attwels Team, das alles zusammenträgt. Eine Sisyphusarbeit, man muss einen Namen nur anhand eines Fotos ermitteln, und es handelt sich nicht gerade um die Bilder aus dem Personalausweis. Sie kommen aber gut voran.«
Brolin stand auf, die Akte des Opfers in der Hand, und ging zu der Wand mit den Fotos. Siebenundsechzig Augenpaare richteten sich auf ihn.
»Fällt Ihnen nichts auf?«
Annabel überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf.
»Nein.«
Er drehte sich zu ihr um.
»Schauen Sie sich doch einmal die Opfer in chronologischer Reihenfolge an.«
Annabel zuckte mit den Schultern.
»Das haben wir schon getan. Sie sprechen von der Vorgehensweise bei der Entführung? Daran arbeiten wir noch. Offenbar legen unsere ›Freunde‹ großen Wert darauf, die Tat ohne Zeugen zu begehen.«
»Diese Vorgehensweise ist wirklich interessant. Sie deutet auf eine gewisse Intelligenz und Organisationsfähigkeit hin,
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