In Blut geschrieben
über das, was bis jetzt bekannt war, gelesen. Die Fotos, die Opfer, die selbst zwei Jahre später noch nicht gefunden worden waren, die Tätowierungen, das lateinische Gebet an Caliban. Beim Aufwachen war ihm ein Gedanke gekommen, eine unangenehme Vorstellung, vielleicht schlimmer als unangenehm. Und wenn er Recht hatte? Wenn diese Hypothese stimmte, so verrückt sie auch scheinen mochte? Doch zuerst einmal musste er in das Gebäude hineinkommen, dann war immer noch Zeit, alles erneut zu überdenken. Im Augenblick war es sinnlos, mit Annabel darüber zu reden, denn falls er sich irrte, hätte er sie unnötig beunruhigt.
Vorrang hatte jetzt dieser Tempel.
Was machst du, Bob? Welches Spiel spielst du? Warum so viele Entführungen und so wenig Leichen? Und wozu einen Tempel? Betet ihr zu Caliban?
Er blickte noch einmal zu den vier Männern, die in etwa zwanzig Meter Entfernung ihrer Arbeit nachgingen. Es war riskant, sich gewaltsam Zugang zu verschaffen. Von dort drüben könnten sie ihn sehen und die Polizei verständigen. Es war besser, die Nacht abzuwarten. Dann war das Viertel menschenleer, keine Zeugen.
Und dann konnte er zu Caliban gelangen.
34
Mit zwei Telefonaten fand John Wilkes heraus, wo sein Schachkollege Arnold McGarth wohnte, und kündigte ihm ihren Besuch an. Wilkes stieg mit den beiden Detectives ins Auto, bestand jedoch darauf, seinen Hund mitzunehmen. Sie fuhren zurück in die Stadt, wo McGarth am Ufer des Flusses neben der roten Mühle von Clinton ein Haus besaß. Auf der Fahrt erklärte Wilkes, dass sein Schachfreund als selbstständiger Buchprüfer arbeitete, weshalb er oft zu Hause war. Die Büroarbeit erledigte er per E-Mail.
McGarth war mittelgroß, hatte breite Schultern und eine glänzende Glatze, um die sich ein Rest graubrauner Haare rankte. Er musste Mitte vierzig sein, an Wangen und Bauch waren die Jahre nicht spurlos vorübergegangen. Er trug eine Kordhose, darüber ein kariertes Hemd und hatte sich seit mindestens zwei Tagen nicht rasiert. Er ließ sie in die wohlige Wärme des Wohnzimmers eintreten, in dem ein Feuer im Kamin brannte. Der Raum war dezent möbliert, die Glassammlung in den Regalen und verschiedene Familienfotos bestätigten Annabel, dass McGarth nicht allein lebte. Der Schachspieler bot ihnen Kaffee an und zeigte zunächst den Polizisten gegenüber überhaupt keine Neugier. Wilkes hatte ihm am Telefon schon mitgeteilt, dass sie wichtige Ermittlungen durchführten und seine Hilfe brauchten. McGarth hatte sie einfach aufgefordert zu kommen, ohne weiter nachzufragen. Als er mit einem Tablett aus der Küche zurückkam, schaltete er die Stereoanlage aus, aus der leise Lieder von Schubert ertönten, und fragte endlich: »Womit kann ich Ihnen dienen? John hat von einem Rätsel gesprochen. Ich sage Ihnen aber gleich, ich bin kein guter Rätselrater, Schach ist nur ein Hobby für mich, keine Leidenschaft.«
»Es hat nichts mit Schach zu tun, es geht eigentlich um Ihre Kenntnisse über Eisenbahnzüge, die uns zu Ihnen geführt haben«, berichtigte Thayer und lehnte mit einer Handbewegung die gereichte Tasse Kaffee ab.
Annabel mischte sich ein und erklärte kurz, worum es bei ihren Ermittlungen ging und was es mit dem Rätsel auf sich hatte. John Wilkes unterbrach höflich, um seine eigenen Schlüsse darzulegen, was die beiden Detectives amüsierte, denn der alte Mann ließ sich richtig mitreißen.
»Du hast absolut Recht«, meinte McGarth, »der John Wilkes ist, beziehungsweise war, ein Zug. Er fuhr durch ganz New Jersey von New York nach Pittstown in Pennsylvania. Er wurde, glaube ich, 1961 eingestellt, nachdem der Eisenbahnverkehr stark zurückgegangen war. Warten Sie.«
Er stand auf und verschwand im Flur, kam mit einem Buch und einem Ordner zurück. Er blätterte in beiden und rief dann begeistert: »Hier steht’s ja, in Betrieb von 1939 bis zum 3. Februar 1961. Die Lokomotive war eine Pacific K-5B, eine Dampflok, versteht sich, sie zog Pullman-Waggons. Ein wunderbares Stück, ja, wirklich! Wahre Kleinode, diese Maschinen, Nummer 2101 und 2102. Ich habe eine Menge Unterlagen darüber.«
»Und der Hinweis JC115, sagt Ihnen das etwas? Könnte das Eisenbahnerjargon sein?«, fragte Thayer.
McGarth zögerte nicht lange.
»Ja, absolut. An den Weichen, an alten Wassertanks und Reparaturhallen, also überall, wo es möglich war, schrieb man die Initialen der Zielstadt oder der Anschlussstelle an eine andere Linie, danach vermerkte man die Anzahl der Kilometer bis zu
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