In dein Herz geschrieben
Annie Laurie zu reden, doch die Worte kamen gegen ihren Willen über ihre Lippen. »Das vielleicht nicht. Aber ich muss zugeben, es gefällt mir nicht, wenn jemand mit zwei Männern gleichzeitig herummacht, besonders wenn einer davon mein Sohn ist. Jedenfalls kann ich bald wieder arbeiten gehen, so dass Chester dich nicht mehr brauchen wird.«
Cassandra war inzwischen aufgestanden, Doris dagegen blieb sitzen.
»Doris«, sagte Cassandra mit bebender Stimme. »Würdest du Annie Laurie bitte sagen, dass ich doch nicht schwimmen gehen kann?« Sie wandte sich um und verließ die Veranda.
Aha, dachte Doris, genau das, was ich meine. Lässt die Kleine einfach im Stich. Aber das wäre früher oder später ja sowieso passiert.
Als Cassandra in ihr Zimmer kam, war sie so wütend wie nie zuvor in ihrem Leben. Wie konnte diese alte Frau ihr sagen, was sie zu tun hatte? Und wie konnte sie es wagen, anzudeuten, dass sie etwas tun könnte, was diesem kleinen Mädchen
schadete? Annie Laurie war nicht dumm. Sie wusste, dass Cassandra nach dem Sommer nach Hause zurückkehren würde. Sie hatte sie sogar gefragt, was sie nach ihrer Rückkehr nach Davis tun wollte.
Nachdem sie eine Weile im Zimmer auf und ab marschiert war und ein paar Schranktüren zugeknallt hatte, griff sie nach dem Hörer und rief Ruth Ann an. Sie musste mit jemandem reden, sonst würde sie noch platzen. »Wieso regst du dich denn so auf?«, fragte Ruth Ann, nachdem Cassandra ihr alles erzählt hatte. »Du kommst doch sowieso bald nach Hause zurück, oder? Du brauchst diese Leute nie wieder zu sehen, wenn du nicht willst.«
»Du verstehst das nicht. Ich habe hier Verpflichtungen. Ich helfe Chester, ein paar Ideen zu entwickeln, wie er mehr Geld am Pier verdienen könnte. Und ich bringe Annie Laurie bei, wie man Schmuckdecken näht und …« Sie hatte gerade sagen wollen, dass sie ihr bei ihrem ersten Freund half, als ihr einfiel, dass das allein Annie Lauries Angelegenheit war. »Und ich helfe May im Garten.« Sie hielt inne, als ihr bewusst wurde, dass sie ihr Bleiben zu rechtfertigen versuchte, obwohl sie es gar nicht zu tun brauchte. Sie hatte nichts verkehrt gemacht. »Ruth Ann! Sie sagt, ich mache mit zwei Männern herum. Herummachen! Als wäre ich ein billiges Flittchen!«
»Na ja, was erwartest du? Du warst mit Dennis zusammen, redest aber ständig von diesem anderen Mann, diesem Hector.« Es entstand eine Pause. »Er ist doch kein Mexikaner, oder?«
»Ruth Ann, was hat das denn damit zu tun?« Cassandra hätte wissen müssen, dass Ruth Ann mit irgendeinem Unsinn daherkam. Aber weshalb war es ihr denn so wichtig, was Ruth Ann dachte? Sie mochte älter sein als sie, aber das bedeutete noch lange nicht, dass sie auch klüger war. Man brauchte sich doch nur einmal all die Fehler in ihrer Ehe anzusehen. Und welchen Unterschied machte es, ob Hector Mexikaner,
Chinese oder Marsianer war? Wenn sie einander liebten, war das doch völlig gleichgültig. Ihr Herzschlag setzte für eine Sekunde aus, ehe er wieder einsetzte, diesmal noch schneller. Liebe?
»Jedenfalls«, fuhr Ruth Ann fort, »brauchst du keinen Mann. Wenn du mich fragst, ist das in deinem Alter sowieso blanke Narretei.«
In diesem Augenblick brach alles aus Cassandra heraus, was sie seit Jahren zurückgehalten hatte. »Ich wünschte bei Gott, du würdest endlich aufhören, mir zu sagen, was ich tun soll und was nicht. Glaubst du ernsthaft, du hilfst mir, wenn du mir ständig erzählst, wie dämlich ich bin, weil ich mich nach einem Mann sehne? Weil ich mir jemanden wünsche, den ich lieben kann? Alles, was ich von dir zu hören bekomme, ist, dass ich mir die Mühe sparen kann, weil es sowieso zu spät ist und ich niemand Anständigen mehr finde. Du glaubst, ich hätte meine Zeit verplempert, mir etwas zu wünschen, das ich mir nicht wünschen sollte, etwas, das ich sowieso niemals bekommen sollte. Das ist so, als würde man sagen, meine Einsamkeit sei nicht wichtig, weil sie sowieso nicht wirklich existiert. Tja, Ruth Ann, nur weil ich nicht hübsch und zierlich bin wie du, bedeutet das noch lange nicht, dass ich nicht dieselben Sehnsüchte habe wie du und jede andere Frau. Ich habe auch ein Herz, das sich nach jemandem sehnt. Genauso wie du.«
Cassandras Worte fühlten sich wie Ziegelsteine an, schwer und hart, so als würden sie eine Mauer zwischen ihr und Ruth Ann aufrichten, und sie hatte weder die Energie noch das Bedürfnis, sie zur Seite zu schieben. Zumindest im Moment nicht. Ohne sich
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