In dein Herz geschrieben
Nichteinheimische: Stoff für die Titelseite. Diese Schildkrötenhasserin konnte die Anzeige gegen sie fallen lassen, solange sie wollte. »Ich werde nirgendwo hingehen. Ich erwarte nämlich jemanden.«
»Du wirst von hier verschwinden müssen, es sei denn, du wartest hier auf die Auferstehung.«
»Sei nicht so frevlerisch! Ich warte auf einen Reporter der Carteret News-Times .« Wichtige Nachrichten, wichtige Nachrichten, wichtige Nachrichten, dachte sie.
Doris seufzte und setzte sich auf die Pritsche. »May, die haben richtige Verbrechen, über die sie berichten müssen. Und alle möglichen anderen Dinge, wie das Wetter, Politik und so. Was du getan hast, ist doch keine Nachricht.«
»Seit wann ist Verfolgung keine Nachricht?«
»Verfolgung?«
»Evelyn Lundy und die Polizei von Carteret County verfolgen mich wegen meiner Überzeugungen.«
»Was ist damit, dass du Evelyn Lundy verfolgst, weil sie das Licht auf ihrer Veranda brennen lässt?«
»Das ist keine Verfolgung, sondern Gerechtigkeit.«
»Na schön«, meinte Doris. »Und was ist mit Annie Laurie? Sie hatte Todesangst, als sie euch drei mit dem Streifenwagen hierher gebracht haben. Und jetzt ist sie draußen mit Cassandra …«
Doris’ Tonfall ließ May aufhorchen. Es klang, als hege sie einen Groll gegen Cassandra. »Wovon redest du?«
»Ich sage nur, sie hätte klüger sein müssen und nicht erlauben dürfen, dass Annie Laurie mitten in der Nacht draußen rumläuft.«
»Aber es war nicht Cassandras Schuld!« May musterte Doris, doch ihre Miene war undurchdringlich. »Was hast du eigentlich gegen Cassandra?«
»Ich habe überhaupt nichts gegen sie. Aber jemand, der so viel Zeit mit meiner Enkelin verbringt, muss mehr Verantwortungsbewusstsein an den Tag legen.«
»Was ist mit mir?«
»Das ist etwas anderes.«
»Das sehe ich aber nicht so.«
Einen Moment lang saßen sie schweigend da, und Mary betrachtete ihre Fingerspitzen, an denen noch die Druckerschwärze der Zeitung haftete. Eifersucht, das war es. Doris war eifersüchtig auf Cassandra. Bisher hatte sie Annie Laurie für sich allein gehabt.
May seufzte. So ungern sie es auch zugab, aber Doris hatte recht. Draußen wurde sie mehr gebraucht als hier drin. Und sie wollte keine Schlagzeile à la VERRÜCKTE SCHREIEND UND UM SICH SCHLAGEND AUS DEM GEFÄNGNIS ENTFERNT lesen. So viel zum Thema wichtige Nachrichten. Sie legte die Zeitung beiseite und rutschte an die Pritschenkante. »Ich verstehe das einfach nicht«, sagte sie. »Ich dachte, die Reporter behalten das Gefängnis ununterbrochen im Auge, weil sie auf eine Story hoffen. Ich dachte, ich bekäme meine Chance.«
»Tja«, meinte Doris und tätschelte ihre Hand. »Vielleicht warten ja draußen welche.«
»Wenn ja, sollte ich sie vielleicht einfach stehen lassen. Jeder Reporter, der diese Bezeichnung verdient, hätte mich finden können.« Doch sie wusste, dass sie das nicht tun würde.
Sie trat zum Waschbecken, wusch sich die Hände und dachte daran, wie nett es wäre, wieder zu Hause zu sein, wo die Seife nicht so streng nach Chemie roch.
Doris rief nach dem Wachmann. May hörte die Ungeduld in ihrer Stimme. Es überraschte sie, dass Doris sich überwunden hatte, in all diesem Chaos einen Fuß in dieses Gebäude zu setzen. Cassandra und Walton mussten sie dazu überredet haben. Meine Güte, dachte sie, ich kann froh sein, dass ich so viele Menschen um mich habe, die sich um mich kümmern, selbst wenn sie meine Beweggründe nicht verstehen.
May schwang ihre Handtasche über die Schulter, um eine Hand für die Behälter mit dem Essen frei zu haben. Sie hätte doch nie zugelassen, dass Lorettas Tuppergeschirr im Gefängnis zurückblieb. An der Tür blieb sie noch einmal stehen und warf einen letzten Blick in ihre Zelle. Eigentlich war es gar nicht so schlimm gewesen - eine harte Matratze, Snacks, eine saubere Toilette. Um der Schildkröten willen würde sie durchaus noch größere Mühen auf sich nehmen. Hätte sie ihre Botschaft bereits gestern gesandt, wäre das Resultat vielleicht besser ausgefallen.
Walton, Cassandra, Annie Laurie und Hector erwarteten sie draußen, und May ging ohne Umschweife auf Walton zu, der sie nur mit diesem »Ja, Schatz, ich weiß«-Blick ansah und ihr die Tupperware-Schüsseln aus der Hand nahm.
Annie Laurie kam angelaufen und warf sich in ihre Arme. May drückte sie an sich und küsste sie auf den Scheitel. Sosehr sie das schlechte Gewissen plagte, weil sie dem Kind Angst eingejagt hatte, so wichtig
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