In dein Herz geschrieben
zu verabschieden, legte sie auf. Es war ein Fehler gewesen, mit Ruth Ann zu reden, so wie damals, als sie das erste Mal mit ihr darüber gesprochen hatte, wer sich um ihre Mutter kümmern sollte. »Ich schätze, es gibt einfach Leute, die auf die Welt kommen, um sich um andere zu kümmern«,
hatte sie damals gesagt, den Kopf schief gelegt, die Achseln gezuckt und Cassandra mit hochgezogenen Brauen angesehen. Am liebsten hätte Cassandra sie gepackt und ihr den Hals umgedreht, als wäre sie ein Hühnchen. Sie hatte leicht reden. In ihrem Leben hatte es stets Menschen gegeben, die sich um sie gekümmert hatten - zuerst ihre Mutter und ihr Daddy, dann A. J. und, wenn sie erst einmal alt und tattrig war, würden ihre Kinder diese Aufgabe übernehmen.
33
An den letzten beiden Abenden war Cassandra nach der Arbeit sofort nach Hause gegangen, hatte in ihrem Zimmer zu Abend gegessen und dann gelesen. Sie fürchtete sich davor, Doris zu begegnen, und war mit geradezu paranoider Vorsicht darauf bedacht, Hector und Annie nicht über den Weg zu laufen. Chester hatte bestätigt, dass Doris wieder zur Arbeit kommen würde, sobald die Schule anfing, hatte jedoch gemeint, Cassandra könne so lange bleiben, wie sie wolle. »Natürlich«, hatte er gemeint, »kann ich es mir nicht leisten, dich dafür zu bezahlen.« Er hatte sie traurig angesehen und ihren Arm getätschelt.
Während sie einen Burrito in der Mikrowelle erhitzte, hörte sie Schritte auf der Treppe, dann ein Klopfen. »Ich bin’s«, rief Annie Laurie.
»Komm rein.« Oh Gott, bitte mach, dass Doris sie nicht hier sieht, dachte sie.
Annie Laurie streckte den Kopf zur Tür rein. »Los, komm mit, wir gehen am Pier angeln.«
Die Mikrowelle piepste. Cassandra drehte sich um und nahm den Burrito heraus. »Wer ist wir?«, fragte sie so beiläufig wie möglich.
»Ich, Walton und Harry Jack.«
»Was ist mit deiner Großmutter?«
»Die ist bei einem Kirchentreffen.«
»Und dein Vater?«
»Er hat heute Abend etwas an seinem Boot zu tun.«
»Sicher?«
Annie Laurie nickte, also willigte Cassandra ein. Sie hatte
bereits Anflüge von Lagerkoller verspürt. Außerdem war dies ein freies Land, und sie konnte angeln, wo sie wollte. Sie legte den Burrito auf einen Teller und wandte sich wieder Annie Laurie zu. »Geh schon vor, Schätzchen. Ich esse nur kurz, dann komme ich nach. Wir treffen uns dort.«
Als sie eine Weile später auf den Pier trat, ging die Sonne gerade unter. Sie genoss den Anblick im Osten, wo sich der blaue Himmel und das Wasser grau färbten, ehe sie sich nach Westen wandte und die weißen, gelben und rosafarbenen Wolken am Horizont betrachtete. Es war so herrlich, draußen zu sein, frei von allen Sorgen, außer der einen - einen Fisch zu fangen. Walton und Annie Laurie hatten ihre Angeln bereits ausgeworfen.
Cassandra trat zu ihnen und lehnte sich neben Walton ans Geländer. »Wo ist Harry Jack?«
»In der Kirche mit Doris«, antwortete Walton kopfschüttelnd. »Die Liebe lässt sich eben nicht so einfach angeln.«
Dabei hatte er sich noch nicht einmal Gedanken über einen Köder machen müssen, dachte Cassandra. Er hatte nur abwarten müssen, bis sich eine passende Lücke bot, und sich in Doris’ Leben geschmuggelt. Wenn Harry Jack Doris dazu bringen konnte, ihn zu mögen, warum gelang es ihr dann nicht auch? Doris hatte doch gesagt, sie sei ein anständiger Mensch, aber offenbar war das nicht weiter von Bedeutung. Aber vielleicht hat sie auch nur versucht, sie einzulullen und ihr ein falsches Gefühl von Sicherheit zu vermitteln, ehe sie zuschlug.
»Fang an.« Annie Laurie reichte ihr eine Angel. Unsicher sah Cassandra sie an. »Annie Laurie, ich will ganz ehrlich sein. Ich verstehe nicht das Geringste vom Angeln.«
Anne Laurie starrte sie mit offenem Mund an. »Du warst noch nie angeln?«
Cassandra schüttelte den Kopf. »Stimmt doch gar nicht«, wandte Walton ein. »Einmal warst du mit mir angeln. Komm,
gib her.« Er lehnte seine Angel gegen das Geländer und griff nach ihrer.
»Daran erinnere ich mich aber nicht mehr.« Als sie sah, wie er den Haken durch einen winzigen Fisch trieb, ahnte sie bereits, dass Angeln nicht zu ihren Lieblingsbeschäftigungen zählen würde. Doch das Wichtigste war, im Freien zu sein, gemeinsam mit Menschen, die sie liebte, und nicht die Fische.
»Tja, aber es ist so.« Er reichte ihr die Angel. »Du hast dort drüben auf der Bank gestanden und sogar einen kleinen Fisch gefangen. Aber du warst selbst noch so klein,
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