In dein Herz geschrieben
haben, nur weil ich allein bin und deswegen nicht Selbstmord begangen habe. Was Mrs. Lundy in Wahrheit meinte, war, dass Cassandra keinen Mann fand und gelernt hatte, mit der Niederlage umzugehen. Cassandra war eine Versagerin, und sie selbst war erfolgreich, weil es wenigstens früher jemanden gegeben hatte, der sie wollte. Häme, das war es in Wahrheit, nicht Bewunderung. Zuerst Ruth Ann, dann Doris und nun auch noch diese Frau hier.
»Oh, ich fühle mich manchmal durchaus einsam«, wandte
Cassandra ein, bemüht, sich ihre Verärgerung nicht anmerken zu lassen. »Aber ich versuche, nicht herumzusitzen und mich selbst zu bemitleiden.« Sie hielt einen Moment inne. »So wie manche andere«, konnte sie sich nicht verkneifen hinzuzufügen.
Evelyns Brauen schossen hoch. »So, so«, sagte sie und musterte Cassandra von oben bis unten, ehe sie die Lippen schürzte. »So, so«, sagte sie noch einmal. »Ich hätte nicht gedacht, dass Sie so sind.«
»Wie denn?«
»Ich hätte gedacht, Sie sind eine von den Frauen, die kein Wässerchen trüben kann.«
Das, dachte Cassandra, war Bewunderung. »Wissen Sie was?«, sagte sie. »Ich glaube, Ihnen geht es gar nicht so mies, wie Sie meinen. Ich glaube, in Wahrheit geht es Ihnen gar nicht so schlecht, Sie wissen nur nicht, wie Sie damit umgehen sollen. Sie haben versucht, sich umzubringen, aber es hat nicht geklappt. Ich denke, in Wahrheit sind Sie sogar froh darüber.«
»Wahrscheinlich ist alles möglich.« Evelyn nahm einen weiteren Bilderrahmen, der zwischen ihrer Seitenlehne und dem Sofa stand. »Ich habe ganz vergessen, Ihnen das hier zu zeigen.« Sie reichte Cassandra das Foto. »Das ist gestern mit der Post gekommen.«
Cassandra warf einen Blick auf das Foto, dann sah sie Evelyn an. »Ihre Kinder?«
Sie nickte. »Und Enkelkinder.«
Alle sahen sie gut aus. Cassandra erkannte ein süßes kleines Mädchen, das Evelyn sehr ähnlich sah, und einer der Männer hatte ebenfalls vertraute Züge. Cassandra warf verstohlen einen Blick auf das Foto von Alastair auf dem Kaffeetisch. Ja, die beiden könnten tatsächlich Zwillinge sein. Sie legte einen Finger auf die Gestalt auf dem Foto und beugte sich zu Evelyn hinüber. »Ist das Ihr Sohn?«
Evelyn nickte. Cassandra sah es in ihrem Gesicht, las die ganze Geschichte. »Sie haben eine schöne Familie«, sagte sie.
»Ich weiß. Und das ist ihre Art, mich daran zu erinnern, was ich versäume.«
Cassandra gab ihr das Foto zurück. »Und hat es funktioniert?«
Evelyn betrachtete das Foto und lächelte. Verblüfft beobachtete Cassandra die Verwandlung, als das Lächeln eine ungewohnte Wärme auf Evelyns Gesicht zauberte, selbst in die kühlen grauen Augen.
»Ich betrachte das als ein Ja«, sagte Cassandra und lächelte ebenfalls.
»Sie sind die Erste, die es erfährt«, sagte Evelyn, während ihre Verklärung einem Ausdruck wich, der als gespannte Erregung ausgelegt werden könnte. »Ich ziehe nach New Mexico. Diesen Herbst, wenn ich das Haus verkauft und alles andere geregelt habe. Ich habe heute Morgen mit meinem Sohn telefoniert. Und mit meiner Tochter.«
»Das ist ja wunderbar.«
Eine zarte Röte breitete sich auf Evelyns Wangen aus. Nicht viel Farbe, fand Cassandra, aber es war ein Anfang. »Tja«, meinte sie, »aber heute Abend reisen Sie noch nicht ab. Also, hoch mit Ihnen. Wir haben noch einen wichtigen Termin. Oder haben Sie den Buchclub vergessen?«
»Oh«, meinte Evelyn. »Der Buchclub …«
»Vergessen Sie’s«, unterbrach Cassandra und schüttelte energisch den Kopf. »Ausreden zählen nicht. Sie gehen mit mir da hin!« Sie wusste überhaupt nicht, wie sie es wagen konnte, diesen Befehlston einer Frau gegenüber anzuschlagen, die viel älter und kaum mehr als eine Fremde für sie war, aber es schien die richtige Taktik zu sein, denn Evelyn gehorchte tatsächlich und stand von der Couch auf.
38
Beim Anblick dieser Frau, die nun wieder in ihre Küche trat, versuchte May sich an Cassandras Worte zu erinnern. Mit Speck fange man Mäuse. Wenn ihr die Schildkröten tatsächlich so sehr am Herzen lagen, würde sie doch alles daransetzen, sich mit Evelyn gut zu stellen, hatte sie gesagt. Trotzdem verstand sie nicht, wieso Cassandra es für eine so gute Idee hielt, diese Frau auch noch zu ihrem Buchclub einzuladen. Annie Laurie war diejenige gewesen, die May am Ende dazu überredet hatte. »Bitte, May«, hatte sie gesagt. »Sie wollte doch nicht gemein sein.«
Cassandra warf May einen warnenden Blick zu. »Wo soll
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