In dein Herz geschrieben
streicheln. »Wo ist sie denn, du kleiner Staubwedel?«
Der riesige Kristalllüster über ihr machte sie nervös, also trat sie einen Schritt beiseite. Unmittelbar vor ihr sah sie Licht aus einem Zimmer dringen und ging darauf zu, in der Annahme, dass es sich um das Wohnzimmer handelte. Bei Strandhäusern befand sich das Wohnzimmer grundsätzlich auf der dem Meer zugewandten Seite.
Sekunden später stand sie im Türrahmen und schaute sich verblüfft um. Der Raum war riesig, mit deckenhohen Fenstern, und alles - Vorhänge, Mobiliar, Kissen, Lampen, der Teppich - war in Weiß gehalten. Den einzigen Farbklecks im Raum bildete der schwarze Marmorkamin. Was hatte diese Frau nur mit der Farbe Weiß?
In diesem Moment sah sie sie. Sie lag auf einem der Sofas, inmitten von weißen Kissen mit einer weißen Decke über den Beinen. Selbst in dieser halb aufrechten Position und mit offenen Augen würde sie noch als Leiche durchgehen.
Sugar sprang aufs Sofa, streckte sich auf ihren Beinen aus und legte den Kopf auf die Pfoten. Cassandra trat näher. »Evelyn, ist alles in Ordnung mit Ihnen? Ich wollte nicht unangemeldet hereinplatzen, aber ich habe versucht, Sie anzurufen. Es hat niemand abgenommen. Mittlerweile sind ein paar Tage vergangen, und wir haben uns allmählich Sorgen gemacht.«
Evelyn blinzelte und schien Cassandra erst jetzt wahrzunehmen. »Oh. Ja. Gut. Möchten Sie sich nicht setzen?«
Als hätte sie sie zum Tee eingeladen, dachte Cassandra. Es sah aus, als würde niemand hier leben. Wie eines dieser möblierten Häuser mit austauschbarer Einrichtung, die man über den Sommer mieten konnte. Auf dem Kaffeetisch stand eine Pflanze, eine von der robusten Sorte, die kaum totzukriegen war, eine Art Philodendron, ja, so hießen sie, soweit sie wusste. Daneben standen zwei Fotos, direkt zu Evelyn hin gerichtet. Sie schien völlig fasziniert von dem, was darauf zu sehen war.
»Wer ist das?« Cassandra berührte das eine Foto am oberen Rand, worauf Evelyn zusammenfuhr. Sugar sprang herunter, während Evelyn die Beine auf den Boden stellte, an die Sofakante rutschte und die Fotos umdrehte, so dass auch Cassandra sie betrachten konnte. Auf beiden Fotos waren Männer zu sehen, der eine jung, der andere alt. Im ersten Moment fragte sich Cassandra, ob es sich um ein und denselben Mann handelte, als es ihr dämmerte. Annie Laurie hatte ihnen von den Fotos erzählt. Bei dem jungen Mann auf dem Schwarzweißfoto, das aussah, als stamme es aus den Vierzigern, musste es sich um den Mann handeln, den sie auf Prince Edward Island zurückgelassen hatte, während der andere wohl ihr Ehemann war.
»Donald«, sagte Evelyn und tippte auf das Foto des alten Mannes. »Und Alastair. Beide sind tot.«
Cassandra hatte keine Ahnung, was sie darauf erwidern sollte. Instinktiv wollte sie etwas Aufmunterndes sagen, doch Evelyn wirkte nicht ernsthaft traurig. Eher so, als hätte sie viel zu lange hier gesessen und gegrübelt. »Tja«, sagte Cassandra. »Sie haben Ihre Kinder.«
»Ja. Ja, das habe ich. Aber Mütter sind wie Milch. Nach einer Weile brauchen die Kinder sie nicht mehr.«
»Das stimmt nicht«, widersprach Cassandra und dachte an
Annie Laurie, die ihre Mutter geradezu verzweifelt brauchte. Und selbst in ihrem Alter brauchte Cassandra ihre Mutter, würde sie immer brauchen und sie bis an ihr Lebensende vermissen.
Es war so still im Raum, dass Cassandra das Rauschen der Wellen am Strand hörte. Sie dachte an May, daran, wie sie alles darum geben würde, zu bekommen, was Evelyn hatte - nicht das Geld, sondern die Kinder und Enkelkinder. Und Doris würde alles darum geben, ihre Tochter zurückzubekommen. Die beiden mochten arm sein, aber sie wussten, was wichtig im Leben war.
»Sie sollten wissen, dass ich mich an nur zwei Gelegenheiten in meinem Leben als Erwachsene erinnern kann, als ich getan habe, was ich wollte, statt das, was andere wollten. Zwei Mal. Einmal, als ich vor ein paar Tagen ins Wasser gegangen bin, und das zweite Mal vor langer, langer Zeit. Beide Male habe ich versagt.«
Zwei Mal. Das ist einmal mehr als ich, dachte Cassandra. »Sehen Sie sich doch nur einmal um, Mrs. Lundy. Man kann Sie wohl kaum als Versagerin bezeichnen.«
Evelyn ließ sich in die Kissen zurücksinken und strich die Decke glatt. »Sie sind stark, das sehe ich. Sie können auf sich selbst aufpassen. Sie wissen, wie es ist, allein zu sein.«
Oh Gott, dachte Cassandra, ich bin diese Frauen so leid, die so tun, als hätte ich etwas, was sie nicht
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