In dein Herz geschrieben
zum Mitkommen zu überreden. Sie könnten umsonst im Wohnwagen ihres Onkels übernachten, ihr ganzes Geld sparen und jeden Tag an den
Strand gehen, hatte sie gesagt. Cassandra war begeistert von dieser Idee, hatte Beckys Angebot aber trotzdem abgelehnt. Als Becky fragte, weshalb sie nicht mitkommen wolle, wusste Cassandra keine Antwort darauf, sondern sagte lediglich, es sei eben so. Wieso hatte sie ihre Eltern nicht gefragt? Sie zog es nicht eine Sekunde ernsthaft in Erwägung, weil es ihr unmöglich schien, so lange von zu Hause weg zu sein. Stattdessen hatte sie den ganzen Tag in einem Billigladen gearbeitet, an den Abenden mit ihren Eltern vor dem Fernseher gesessen und zugehört, wie sie die Luft zwischen den Zähnen einsogen, um Essensreste zu entfernen, bis sie geglaubt hatte, sie verliere den Verstand.
War es zu spät für einen solchen Sommer am Strand? Ja, irgendwann würde sie nach Hause zurückkehren und allen anderen in die Augen sehen müssen, aber nicht jetzt. Und heute Abend schon gar nicht, dachte sie, als ihr Magen laut knurrte. Heute Abend musste sie nur eines tun: in ihren Wagen steigen und etwas Essbares besorgen, ohne dass ihr dabei jemand über den Weg lief, mit dem sie reden musste. Sie würde sogar das Licht ausgeschaltet lassen und im Dunkeln die Treppe hinunterschleichen, den Wagen im Leerlauf die Einfahrt hinunterrollen lassen, dann den Gang einlegen und zusehen, dass sie wegkam. Wie ein elender Dieb. Allmählich bekam sie Übung darin, sich unbemerkt davonzumachen.
Sogar im Wageninneren hörte Cassandra das Wummern der Bässe aus dem Haus dringen. Diese Annie Laurie - kaum ein Teenager, und schon musste die Musik dröhnen. Doch dann fiel ihr wieder ein, dass Annie Laurie ja nach Ocracoke gefahren war. Als sie aus dem Wagen stieg und die Lebensmittel vom Rücksitz nahm, bemerkte sie, dass es gar keine Rockmusik war. Sie hielt inne und lauschte. Nein, das war Conway Twitty, Mays Lieblingssänger. So leise wie möglich schlug sie die Wagentür zu und ging auf Zehenspitzen den Bürgersteig entlang. Sie trat in den Lichtkegel, der vom Wohnzimmer auf
den Gehsteig fiel, und kam sich erneut wie ein Dieb vor, den der Schein einer Polizeitaschenlampe erfasste. Sie trat über die Begonien und das Piassava-Gras, bückte sich und spähte übers Fensterbrett.
Oh Gott, dachte sie. Das war »You’ve Never Been This Far Before.« Was für ein lächerlicher Song, mit diesem ständigen Bam-bam-ba! Sie konnte sich genau vorstellen, wie das Albumcover aussah - Conways pomadisierte Tolle, die leicht geschürzte Oberlippe, die ihm Cassandras Meinung nach etwas Fieses verlieh, wohingegen May es unglaublich sexy fand. Ihre zweiundsiebzigjährige Tante von jemandem schwärmen zu hören, er sei sexy, war schon verrückt genug, aber dieses Wort in einem Atemzug mit Conway Twitty?
Doch als sie die Wange auf das Ziegelfensterbrett legte und lauschte, wurde ihr bewusst, dass der Song tatsächlich Sex versprühte - Sex mit einem großen S., - und zwar nicht nur der Text, sondern die wachsende Eindringlichkeit der Musik. »As my trembling fingers touch forbidden places« - Bam-bam-ba. Gütiger Himmel!
Mit einem Mal wurde ihr heiß. Sie fächelte sich mit der Hand Luft zu, hob den Kopf und spähte wieder ins Wohnzimmer. Auf den ersten Blick schien das Zimmer leer gewesen zu sein, doch nun erkannte sie Walton und May im Schatten neben der Stereoanlage. Sie tanzten. Ganz langsam. May hatte die Wange an seine Brust gelegt, die Arme um seine Taille geschlungen und ließ die Hände über seinen Rücken wandern. Waltons Hände lagen auf Mays Hinterteil, während er den Text mitsang. Bam-bam-ba.
Sie war nicht allzu lange fort gewesen. Anderthalb Stunden vielleicht. Wie waren sie vom Fernsehen zu Conway gekommen, in der Zeit, die sie gebraucht hatte, um nach Cape Carteret zu fahren, einen Cheeseburger zu essen und bei Food Lion einkaufen zu gehen?
Cassandra betrachtete die eng umschlungenen Gestalten,
die so gar nicht nach reizender alter Tante und Onkel aussahen. Die schummrige Beleuchtung und die Musik hatten sie in … ja, was? In ein Liebespaar verwandelt. Das war die perfekte Bezeichnung für sie. Genau das waren sie, ihre Tante May und ihr Onkel Walton, beide in den Siebzigern mit einer ganzen Reihe körperlicher Unzulänglichkeiten, seit über fünfzig Jahren verheiratet. Ohne sich dessen bewusst zu sein, dass sie sie jederzeit sehen könnten, richtete sich Cassandra auf und sah die beiden an, während ihr die
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