In dein Herz geschrieben
daran, dass all diese Briefe in einer Plastiktüte unter Darlenes Nachthemden in der Kommode lagen, kamen ihr fast die Tränen.
Sie sah zu Hector hinüber und fragte sich, welche Art Brief
er wohl schreiben würde oder ob er es überhaupt täte. In diesem Mann schlummerten Geschichten, so viel stand fest. Da war eindeutig mehr als diese Scherze und seine bissigen Kommentare. Irgendetwas lastete auf seiner Seele; Dinge, die wahrscheinlich mit seiner Mutter zu tun hatten, mit Annie Laurie, mit Annie Lauries Mutter. Cassandra wüsste gerne, was es war, hütete sich jedoch, danach zu fragen. Wenn sie mehr über ihn erfahren wollte, würde sie es über die anderen Frauen herausfinden müssen. Vielleicht lief es ja genau darauf hinaus: Männer redeten mit Männern über ihre Gefühle, Frauen mit Frauen, als verstünde einen nur das eigene Geschlecht. Wenn das jedoch stimmte, wofür brauchten Mann und Frau dann einander, von der Fortpflanzung einmal abgesehen? Dies war eines der größten Rätsel, die man sich vorstellen konnte.
Doch je länger sie neben Hector auf dem sanft schwankenden Boot saß, umgeben von den funkelnden Lichtern und dem Mond und den Sternen über ihr, umso klarer wurde ihr, dass es in Wahrheit unwichtig war. Allein dank der Tatsache, dass er neben ihr saß, so warm, solide und wirklich, fühlte sie sich besser, sicherer. Vorhin noch hatte sie sich so vor dieser beängstigenden Gewichtslosigkeit gefürchtet, jenem Gefühl, ins All zu schweben, ganz allein, ohne jemanden, den es kümmerte oder der es bemerkte; jenes Gefühl, das das Bedürfnis in ihr auslöste, den Becher Ben & Jerry und die Kekse auf einmal zu verschlingen, alles, nur um sie am Boden zu halten und zu verhindern, dass sie davongetragen wurde. Sie hatte keine Ahnung, was Hector an sich hatte, dass er ihr genau dieses Gefühl vermitteln konnte, ohne dass sie die entsprechenden Kalorien zu sich nehmen musste.
Ob es am Bier lag, an der Dunkelheit oder daran, dass sie so entspannt war, wusste sie nicht, doch irgendwann begann sie zu reden. Sie erzählte ihm von Dennis, von der Hochzeit. Alles. Es sprudelte einfach aus ihr heraus, und als sie zu Ende
war, kam es ihr vor, als hätte sie mindestens zwanzig Kilo verloren. Im ersten Moment sagte Hector nichts, so dass Cassandra sich fragte, was er denken mochte. Wahrscheinlich überlegte er, wie er diese Quasselstrippe so schnell wie möglich wieder loswurde.
»Tut mir leid«, sagte sie.
»Entschuldigen Sie sich nicht«, meinte er. »Ich habe nur nachgedacht.«
Sie entspannte sich auf ihrem Stuhl, legte den Kopf in den Nacken und blickte zu den Sternen hinauf. Könnte dieses Gefühl doch nur anhalten. Aber eines Tages würde sie nach Hause zurückkehren und sich den Tatsachen stellen müssen. Sie seufzte. »Ich weiß beim besten Willen nicht, was ich jetzt tun soll, Hector.«
»Was würden Sie denn gern tun?«
Sie schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«
Wieder verfiel er in Schweigen, als lausche er auf etwas. Sie wünschte, sie wäre zu derselben Empfindung imstande - zu diesem Gefühl des Friedens, der Zufriedenheit mit dem eigenen Leben. Endlich ergriff er das Wort. »Erinnern Sie sich noch an den Jungen, der sich letztes Jahr im Wald verlaufen hatte? Irgendwo in Montana oder so? Eine Woche lang wurde er vermisst. Es kam in sämtlichen Nachrichten.«
Wovon um alles in der Welt redete er? »Ja. Wieso?«
»Tja, ich weiß noch, dass ich dachte, wie beängstigend es sein muss, mitten unter all diesen Bäumen, die alle gleich aussehen. Wie leicht man sich verirren kann. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich mich in dieser Situation zurechtfinden würde. In den Nachrichten haben sie einen Wildnisexperten befragt, der meinte, das Schlimmste sei es, herumzugehen und nach dem Weg zu suchen, weil die Gefahr nur noch größer sei, sich zu verirren. Das Klügste sei, auch wenn es einem vielleicht nicht so vorkommt, zu bleiben, wo man ist, und zu warten.«
So wie er es sagte, so sachlich und ruhig, klang es, als wäre es das Logischste auf der ganzen Welt, als wäre es nicht feige oder egoistisch. So einfach war das. Geh nicht los. Sondern mach genau das Gegenteil. Bleib. Aber natürlich gab es niemanden, der nach ihr suchte, niemand, der zu ihrer Rettung herbeieilte. Worauf würde sie also warten?
JULI
»Salzwasser heilt alles - Schweiß, Tränen oder das Meer.«
Isak Dinesen
19
Chester Fulford war der lebende Beweis dafür, dass Äußerlichkeiten trügerisch sein können. Als
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