In dein Herz geschrieben
North Carolina gedreht worden war.
Sie fragte sich, ob sie jemals diese tiefen Gefühle für die Gegend hier aufbringen könnte. Vielleicht wenn sie in eine bestimmte, eigene Vergangenheit zurückblicken konnte, so wie May ein paar persönliche Erinnerungen hatte. Doch der Ort, an dem man lebte, war nicht alles. Berge und Meer konnten die Liebe nicht erwidern oder einen vor der Einsamkeit bewahren, zumindest nicht sie allein. Im Moment wusste Cassandra nicht, wohin sie gehörte. Sie wusste nur, dass sie hier sein musste, hier an diesem Ort, der ihr vertraut und zugleich doch fremd war. Sie brauchte eine offene Landschaft, den Horizont, der sich scheinbar endlos über all das Wasser erstreckte, brauchte die Möglichkeit, hinauszublicken, ohne dass es etwas gab, woran ihr Blick hängen blieb.
Perspektive, das war es. Eines von Annie Lauries Worten. Eine endlose, endlose Aussicht. Sie brauchte sie ebenso wie die Gewissheit, etwas Großes neben sich zu haben. Die Berge waren zwar hoch, schränkten aber die Aussicht ein, während sich der Ozean flach und weit vor ihr erstreckte, so dass sie sich nicht gefangen oder blockiert fühlte, sondern ungehindert atmen und nachdenken konnte. Vielleicht hatte es auch etwas mit dem Wind zu tun, dem Wind, der kaum jemals nachließ, eine ständige Begleiterscheinung, die einen wieder an dieses Etwas erinnerte, das größer war als man selbst, an dieses Mysterium in der Luft und unter Wasser, an die unsichtbaren Dinge, an das Unentdeckte, an den Verlust der Kontrolle, an die Hilflosigkeit angesichts der Welt, der Natur. In gewisser Weise nahm es einem den Druck, führte ihr vor
Augen, wie wenig sie die Dinge beeinflussen konnte. Es musste genauso sein, wie ihre Mutter immer gesagt hatte: Menschen waren dafür geschaffen, alles ergründen zu wollen. Sie waren dafür geschaffen, sich nach Rätseln zu sehnen und zugleich nach den Antworten, die sie erst bekommen würden, wenn sie das Zeitliche segneten.
Cassandra fuhr zusammen, als die Fliegentür zuschlug und Annie Laurie mit ihrem Buch unter dem Arm hereinkam. »Cassandra, kann ich eine Weile am Strand spazieren gehen?«
»Klar, Schatz. Hast du deinen Sonnenhut dabei?«
»Hab ich.«
»Und hast du dich eingecremt?«
»Hab ich.«
»Gut. Aber …«
»Ich weiß, ich weiß, lass den Hut auf, geh nicht weiter als bis zu dem großen weißen Haus, sprich nicht mit Fremden und geh nicht weiter ins Wasser als bis zu den Knien.«
»Und sei zum Mittagessen wieder hier. Schlag zwölf, okay?«
»Mach ich.«
Cassandra sah, wie das Mädchen die Stufen hinunter und ans Wasser lief. Trotz der Brise brannte die Sonne runter, und sie fragte sich, ob Annie Laurie einen Sonnenbrand bekäme. Rothaarige mussten besonders vorsichtig sein. Sie würde sich grauenhaft fühlen, wenn das Kind mit Brandblasen zurückkäme, ganz zu schweigen davon, dass Doris sie erschlagen würde.
Jemand lehnte sich neben ihr ans Geländer. Skeeter. Oh Gott, dachte sie. So verrückt es schien, Cassandra fürchtete, dass sie dasselbe Problem mit ihm bekäme wie Doris mit Harry Jack. Sie wandte sich wieder um und sah Annie Laurie nach, spürte jedoch, dass er sie musterte.
»Hey, Skeeter.«
»Doris erlaubt Annie Laurie nie, den Pier zu verlassen, wenn sie hier ist.«
»Ich weiß. Aber Annie Laurie ist fast dreizehn. Ich denke, sie ist alt genug, um allein am Strand spazieren zu gehen.«
»Doris sagt, einem Kind kann alles passieren, wenn es allein ist. Sie könnte ertrinken, entführt werden oder sich verirren.«
Cassandra spürte einen Anflug von Schuld und Sorge, schob das Gefühl jedoch verärgert beiseite. »Skeeter, sie kommt schon zurecht. Sie geht nur bis zum großen weißen Haus und wieder zurück.« Dieses Haus war Annie Lauries Orientierungspunkt, die Stelle, an der sie umkehren musste. Dahinter erstreckte sich ein langes unerschlossenes Strandstück in staatlichem Besitz, und Cassandra wollte nicht, dass sie allein dort rumwanderte.
Skeeter schirmte seine Augen mit der Hand ab und sah zu dem Haus hinüber. »Da wohnt die alte Frau mit dem kleinen weißen Hund«, erklärte er. »Ich hab ihr geholfen, ihre Treppe wieder aufzubauen, als Eddie sie weggerissen hat.«
»Eddie?«
»Der Hurrikan. In den Nachrichten haben sie ihn Eduardo genannt, aber bei uns hier hieß er Eddie. Am ganzen Strand gab es keine einzige Treppe, die nicht kaputt war.«
Hurrikane. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht, obwohl sie sich erinnerte, neulich im Radio gehört zu haben,
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