In dein Herz geschrieben
Schatz, ich weiß. Ich vermisse meine Mutter auch jeden Tag, obwohl sie schon seit fast dreißig Jahren tot ist.«
»May, was ist los mit mir? Wieso mache ich so dumme Dinge? Wieso verletze ich Menschen, die ich liebe, wieso laufe ich herum und führe mich wie eine Verrückte auf?«
Für einen Moment war es still in der Küche, nur das Ticken der großen Uhr über dem Herd war zu hören, und ab und zu das Zischen und Fauchen des Wassers, das im Kessel zu kochen begann. Draußen wurde es immer heller, und schon bald würden sie kein Licht mehr brauchen.
»Tja«, meinte May, »es steht mir vielleicht nicht zu, das zu sagen, aber bist du schon mal auf die Idee gekommen, dass du versucht hast, dir selbst etwas vorzumachen? Es ist lange her, dass ich jung war, und ich weiß, dass sich seither vieles verändert hat, aber eines kann ich dir sagen: Frauen ändern sich nicht. Eine Frau will immer noch einen Mann lieben. Nicht nur mögen oder schätzen, sondern lieben. Und wenn du ihn liebst, tja, dann kommt alles andere sowieso von selbst. Darüber brauchst du dir nicht die geringsten Gedanken zu machen.«
Sie klang so sehr wie ihre Mutter, dass es Cassandra das Herz zu brechen drohte. »Aber ich habe ihn doch geliebt. Zumindest dachte ich das.«
»Ich bezweifle nicht, dass du das getan hast, aber für mich klingt es eher nach freundschaftlicher Liebe. Woran es absolut nichts auszusetzen gibt. Ich kenne jede Menge Leute, die auf dieser Basis eine halbe Ewigkeit verheiratet und sehr glücklich miteinander sind.«
Cassandra dachte an den Abend, als sie May und Walton durchs Fenster beobachtet hatte. Damals, als sie zu Conway tanzten. Etwas war da zwischen ihnen, etwas, das selbst aus der Entfernung nicht zu übersehen war. Etwas, das nicht nur auf dem jahrelangen Zusammenleben beruhte. Mit Hector, einem Mann, den sie in Wahrheit gar nicht kannte, war sie diesem Etwas näher gekommen, als es ihr mit Dennis je gelungen wäre. Was bedeutete das? »Aber was Walton und du miteinander habt, ist einfach etwas anderes.«
May lächelte - ein inniges, wissendes Lächeln. »Ich schätze, ich habe eben Glück gehabt. Mit Walton habe ich wohl jede
Art von Liebe bekommen, die es gibt, und noch viel mehr. Ich wusste es von dem Augenblick an, als ich ihn das erste Mal gesehen habe.«
»Was?«
»Ich kenne das richtige Wort nicht dafür, Schatz. Vielleicht gibt es auch keines. Es war nur so, dass dieses Wissen auf einmal da war. Du wirst es verstehen, wenn du es selbst erlebst.«
Die Stuhlbeine scharrten auf dem Boden, als Cassandra aufstand und an die Spüle trat. Sie hatte noch nie ein Pokerface besessen und wollte nicht, dass May ihre Irritation bemerkte. Sie drehte den Wasserhahn auf und wusch sich die Hände mit Spülmittel, während ihr durch den Kopf ging, wie leid sie es war, die Leute sagen zu hören, sie würde es schon eines Tages verstehen, wenn sie es selbst erlebe, ebenso wie ihre Beteuerungen, dass es eines Tages so weit wäre. Gütiger Himmel, sie war fünfundvierzig Jahre alt. Wenn es nicht bald passierte, wäre sie so alt wie Methusalem und eher daran interessiert, ein Nickerchen zu halten, als sich zu verlieben.
Cassandra fuhr zusammen, als sie May neben sich spürte. Trotz ihres Alters und ihrer Knie war es ihr gelungen, lautlos von ihrem Stuhl aufzustehen. May hielt die Hände ins Seifenwasser im zweiten Spülbecken, wusch Gabeln, Löffel, Messer und Gläser ab und legte alles in das Becken vor Cassandra. »Mach dir keine Sorgen, Schatz«, sagte sie, »es wird alles werden.«
»Das kannst du unmöglich wissen«, wandte Cassandra ein.
»Oh doch, ich weiß es.«
»Woher?«
»Ich habe meine Methoden«, antwortete May. »Und jetzt sieh zu, dass ordentlich heißes Wasser in dieses Becken kommt.«
Diese Frau hasste alle Bakterien, dachte Cassandra und lächelte,
während sie so heißes Wasser wie möglich ins Becken einlaufen ließ. Früher, als Kind, hatte sie May immer gern beim Abwasch geholfen, weil sie auf einen Hocker steigen und diese gelben Gummihandschuhe tragen durfte. Sie öffnete den Schrank unter der Spüle, und da waren sie - dieselben Handschuhe wie früher. Sie streifte sie über und ließ das heiße Wasser über ihre Hände laufen. Dampf stieg auf und legte sich über die Fensterscheibe, so dass sie nichts sehen konnte. Nur das Zwitschern der Vögel wurde immer klarer und lauter.
»Wenn wir fertig sind, setzt du dich hin und isst etwas von diesen Pfannkuchen. Wenn du erst etwas im Magen hast,
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