In dein Herz geschrieben
Stechmücke, schlug nach ihr und stieg dann aus dem Wagen. Es brachte nichts, hier herumzusitzen und sich als Mahlzeit für die Insekten herzugeben. Die Hintertür zum Haus war offen, ebenso wie die Fliegentür, als hätte May darauf gewartet, dass sie irgendwann auftauchte. Cassandra öffnete die Tür, worauf May sich mit dem Wender in der Hand vom Herd umdrehte.
»Morgen, Schatz«, sagte sie und drehte die Lautstärke ihrer Vestal Goodman and the Happy Goodman Family-Kassette leiser. »Lust auf Pfannkuchen?« Sie schien nicht im Mindesten von Cassandras Auftauchen um diese Uhrzeit überrascht zu sein.
»Nein, danke, ich habe keinen Hunger.« Cassandra zog einen Stuhl heran und setzte sich. Die Blue-Willow-Teller auf dem Tisch erinnerten sie an das Geschirr zu Hause, das ihre Mutter mitgebracht hatte, als sie bei ihr eingezogen war. Inzwischen benutzten es Ashley, Keith und Catherine, so wie alles andere im Haus. Es gehörte jetzt alles ihnen. Sie hatte frei sein wollen, wenn sie Dennis heiratete, frei von allem, um ein ganz neues Leben mit ganz neuen Dingen anzufangen. Und
was Ashley nicht wollte, hatte sie an Goodwill verkauft oder verschenkt, damit es an Bedürftige weitergegeben wurde.
May summte, während sie am Herd stand, so wie ihre Mutter es immer getan hatte, während der Pfannkuchenstapel auf dem Teller neben ihr immer höher wurde, nur dass ihre oval statt rund waren. Außerdem gerieten sie bei May immer ein wenig zu dunkel. »May«, sagte Cassandra, »du hast doch nicht etwa vor, die alle allein aufzuessen, oder?«
»Nein, Miss Superdiät. Die sind für alle da. Später brate ich für Doris noch Eier, weil sie nicht einmal einen Pfannkuchen anrührt, wenn ihr Leben davon abhängt.«
»Wieso nicht?«
»Zu süß, sagt sie. Es ist einfach nicht fair. Sie kann so viele Pfannkuchen essen, wie sie will, und möchte keinen einzigen, und ich, die am liebsten alle verdrücken würde, bekomme keinen. Manchmal kann ich mich nur fragen, ob der liebe Gott an dem Tag, als er die Lebensmittel erschaffen hat, vielleicht etwas verwechselt hat. Ob er dafür gesorgt hat, dass einem die leckeren Dinge schaden und die nicht leckeren gut für einen sind. Es wäre bestimmt nett, wenn ich ebenso gern Brokkoli essen würde wie Kuchen.«
»Oder wenn Salat so gut wie Schokoladenkuchen schmecken würde«, bestätigte Cassandra. »Es ist so schwer, fett zu sein. Besonders als Kind. Ich mache mir Sorgen um Annie Laurie. Nicht dass sie fett wäre, nur ein wenig pummelig, trotzdem ist es hart, anders als alle anderen zu sein. Kinder können so gemein sein.«
»Annie Laurie ist ein vernünftiges Mädchen.«
»Das weiß ich, trotzdem ist es eine schwierige Phase, bald dreizehn und damit ein Teenager zu sein. Um diese Zeit herum vergessen die Mädchen, wer sie eigentlich sind, und fangen an, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie aussehen. Dabei werden sie dessen erst gewahr, wenn sie in meinem Alter sind und sich zurückerinnern.«
Sie sah, wie May in sich hineinlächelte, während sie die Pfanne vom Herd zog. »Was?«, meinte Cassandra.
May schüttelte den Kopf und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. »Dasselbe könnte ich auch zu dir sagen, Mädchen.«
Es dauerte eine Minute, bis Cassandra begriff, was sie damit meinte. Sie erwiderte das Lächeln. »Ich weiß. Du hast recht. Später sieht man die Dinge immer klarer.«
»Du weißt selbst, welches Annie Lauries größtes Problem im Moment ist«, meinte May. »Dass sie keine Mutter hat.«
»Dabei hat sie, wenn man es sich genau überlegt, eigentlich zwei. Dich und Doris.«
May stellte den Teller mit den Pfannkuchen auf den Tisch und stemmte die Hände in die Hüften. »Das ist aber nicht dasselbe. Wir sind alt.«
»Und wieso siehst du mich dabei so an?«
May gab keine Antwort. Stattdessen zog sie einen Stuhl heran und stützte sich mit den Händen auf dem Tisch ab. »Diese Knie«, sagte sie und ließ sich im Zeitlupentempo auf den Stuhl sinken. Als ihr Hinterteil die Sitzfläche erreichte, stieß sie ein Stöhnen aus und griff nach der Zeitung.
»Mama und ich haben das auch immer gemacht«, sagte Cassandra. »Zusammen in der Küche sitzen. Wir haben Kaffee getrunken, die Zeitung gelesen, gewartet, bis es draußen hell wird. Es war immer ganz still.« Sie wandte den Kopf und blickte nach draußen, wo sich bereits das erste Licht des Tages zeigte. »Sie fehlt mir so sehr«, fügte sie mit brüchiger Stimme hinzu.
May ließ die Zeitung sinken. »Ich weiß,
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