In deinen Armen
MacLean und ihre Begleitung schienen in der Tat eine trostlose Gegend zu durchfahren; den Norden möglicherweise, oder sie hatten bereits die schottische Grenze passiert. Sie wusste nicht, wie lange man brauchte, um so weit zu reisen; sie war nie zuvor mit dem Zug gefahren.
Blinzelnd setzte sie sich in ihrem Bett auf. jemand hatte ihr eine leichte Decke übergelegt, Kiernan MacLean vermutlich. Sie fragte sich, wo er wohl steckte, und verfluchte sogleich ihre Neugier. Er war bei ihr gewesen, als sie eingeschlafen war; seit sie Blythe Hall verlassen hatten, hatte er jede Sekunde mit ihr verbracht; er hatte zu ihr gesprochen, ihr das Haar gestreichelt und so sehr den liebenden Ehemann gegeben, dass sie am liebsten geweint hätte oder geschrien oder sich an ihn geklammert und ihn angefleht, ihr zu sagen, dass alles gut werden würde.
Sie hatte es aber nicht getan. Sie hatte ihre gelassene Fassade aufrechterhalten, ihn aber, wie sie befürchtet hatte, nicht täuschen können.
Sie glitt aus der Schlafkoje und betete lautlos zu Abend.
Sie konnte nicht mehr an ihm herumnörgeln. Sie konnte nicht über ihn weinen. Sie konnte wahrscheinlich nicht einmal mehr Liebe mit ihm machen. Er war nicht ihr Ehemann. Sie konnte ihn nicht wie einen behandeln.
Obwohl er selbst sich wie einer benahm. Sie schaute in den kleinen Spiegel in der Ecke des Abteils. Er hatte ihr das rote Wollhalstuch gelöst, die grüne Samtjacke aufgeknöpft und ihren Hals bis zum Dekolleté entblößt. Vielleicht hatte er es ihr bequem machen wollen, aber sie wusste, wie sehr er sich am Anblick ihrer nackten Haut ergötzte und an seinem Recht, sie zu entkleiden.
Schniefend klopfte sie sich den Rock aus, zog die festen schwarzen Reisestiefelchen an und arrangierte ihre Kleider neu, um wieder respektabel auszusehen.
Wenigstens hatte er nicht versucht, mit ihr zu schlafen. Sie hätte es nicht zulassen können. Es stimmte, sie hatten bereits einen Bissen vom Apfel genommen, aber jetzt wusste sie über die Tatsachen Bescheid. Sie wusste, was falsch war und was richtig. Sie hatte auch in schrecklichen Zeiten an ihren moralischen Grundsätzen festgehalten, als es ihr das Leben um vieles erleichtert hätte, sie über Bord zu werfen. Sie würde nie wieder mit MacLean schlafen – und sie hasste den Schlag, den ihr das versetzte.
Fast hätte sie sich gewünscht, es ihm sagen zu können, doch Mr. Throckmortons Anweisungen waren ziemlich eindeutig gewesen, und Enid fürchtete, dass er Recht hatte. Vielleicht würde MacLean nie herausfinden, was in den Tiefen seines Hirns lauerte, wenn sie sich zu sehr einmischten.
Sie hörte im Abteil gegenüber Männerstimmen murmeln und spähte vorsichtig zur Tür hinaus.
MacLean saß mit auf den Sitz gegenüber hochgelegten Beinen da und sprach mit Harry.
Harry hatte es sich in gleicher Weise bequem gemacht. Doch dem gelassenen Anschein zum Trotz verströmten die beiden Männer eine Wachsamkeit, die im krassen Gegensatz zu ihrer Haltung stand.
Beide trugen sie Braun und Schwarz, eintönige Farben, die sie wie Leichenbestatter aussehen
ließen. Schwarze
Jacketts, schwarze Hosen und schwarze Stiefel, die nicht etwa vor Politur glänzten, sondern trübe aussahen, als hätte man das Leder absichtlich stumpf gemacht. Ihre
Westen waren
von fadem Braun, die Halstücher farblich abgestimmt.
Zwischen den beiden befand sich ein kleiner Tisch, auf dem fünf Kerzen in
einem fest
montierten Kandelaber brannten, daneben eine Flasche Wein und zwei halb volle Gläser. Das Gespräch war ernst, keiner der beiden
bemerkte
sie.
Enid glitt in ihr Abteil zurück,
setzte sich
und starrte zu Boden. Sie verstand einfach nicht, wie MacLean sich so schnell von
einem Invaliden
in einen Mann der Tat hatte verwandeln können. Er wäre um so viel leichter zu handhaben gewesen, wäre er noch in seinem Bett gefangen
gewesen.
Was sollte sie die nächsten Tage über nur tun, während Throckmortons Männer sie durch die Gegend scheuchten und MacLean sich unaufhaltsam seiner Heimat näherte? Ihr Magen
schmerzte. Sie
hielt sich für eine logisch denkende, verständige Frau mit
einem Gespür
für Etikette und einem gesunden Selbsterhaltungstrieb, und jetzt ließ sie sich von den Ereignissen überrollen, weil sie schlicht und einfach nicht wusste, was sie dagegen hätte tun sollen.
Gut, schließlich war ihr kein Präzedenzfall bekannt, an dem sie sich hätte
orientieren können
. Und MacLean brauchte ja nicht anzunehmen, dass sie ihn belogen hatte. Entweder es
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