In deinen Augen
geblümtes Kleid. Ein Stück weiter sah ich einen einsamen Holzclog und drei Meter daneben, umgekippt, sein Gegenstück. Ich holte tief Luft und kniete mich hin, um das Kleid aufzuheben. Der Stoffballen in meiner Hand verströmte die schwache Erinnerung an Grace’ Duft. Ich richtete mich wieder auf und schluckte.
Von hier aus konnte ich den VW von der Seite sehen, an der nun der Schmutz des Parkplatzes klebte. Als hätte ich ihn nie gewaschen.
Ich setzte mich wieder hinters Steuer und legte das Kleid auf den Rücksitz, dann vergrub ich Nase und Mund in meinen Händen und atmete, die Ellbogen aufs Lenkrad gestützt, wieder und wieder dieselbe Luft ein. Lange Zeit saß ich so da und sah über das Armaturenbrett hinaus auf das zurückgelassene Paar Schuhe.
Es war so viel einfacher gewesen, als ich der Wolf war.
KAPITEL 4
COLE
Das war ich, jetzt, seit ich ein Wolf war: Ich war Cole St. Clair und früher war ich NARKOTIKA.
Ich hatte geglaubt, dass nichts von mir übrig bliebe, wenn man den stampfenden Bass von NARKOTIKA wegnahm und das Gekreisch von hunderttausend Fans und den Kalender, auf dem sich vor lauter Tourdaten kaum noch ein weißer Fleck fand. Und nun saß ich hier, Monate später, und unter der Kruste, die ich abgeknibbelt hatte, war neue Haut zum Vorschein gekommen. Jetzt widmete ich mich den einfachen Freuden des Lebens: überbackene Käsesandwichs, Jeans, die mir nicht die Kronjuwelen einzwängten, einem Gläschen Wodka, zehn bis zwölf Stunden Schlaf.
Ich war mir nicht sicher, wie Isabel da hineinpasste.
Die Sache war die: Ich hielt es den größten Teil der Woche aus, ohne an getoastete Käsesandwichs und Wodka zu denken. Von Isabel konnte ich das nicht behaupten. Aber ich hatte auch nicht gerade die herrlichsten Tagträume, die mich auf angenehme Art quälten. Es war mehr so wie Sackratten. Wenn man richtig viel zu tun hatte, konnte man das Ganze fast vergessen, aber sobald man einmal zur Ruhe kam, war es die Hölle.
Fast zwei Monate und immer noch kein Wort von ihr, trotz einer Reihe extrem unterhaltsamer Mailboxnachrichten meinerseits.
Nachricht 1: »Hi, Isabel Culpeper. Ich liege im Bett und starre an die Decke. Ich bin mehr oder weniger nackt. Ich denke an … deine Mutter. Ruf mich an. «
Und jetzt rief sie plötzlich an?
Ohne mich.
Ich konnte nicht im Haus bleiben, wenn mich das Telefon so vorwurfsvoll anstarrte, also schnappte ich mir meine Schuhe und marschierte raus in den Nachmittag. Nach Grace’ Flucht aus dem Krankenhaus hatte ich mich tiefer in meine Forschungen nach den Ursachen, die uns zu Wölfen machten, vergraben. Hier draußen im Busch gab es keine Möglichkeit, uns unter dem Mikroskop zu betrachten, um echte Antworten zu bekommen. Aber ich hatte ein paar Experimente geplant, für die ich kein Labor brauchte – nur Glück, meinen Körper und ordentlich Eier in der Hose. Und eins von besagten Experimenten würde gleich viel besser laufen, wenn ich einen anderen Wolf in die Finger kriegen würde. Also hatte ich angefangen, Ausflüge in den Wald zu unternehmen. Oder, na ja, eher Beutezüge. So hatte Victor es immer genannt, wenn wir mitten in der Nacht zum Mini-Markt rannten, um uns irgendwas zu essen zu besorgen, was hauptsächlich aus Plastik und Trockenkäsearoma bestand. Ich unternahm also im Namen der Wissenschaft Beutezüge in den Boundary Wood. Ich hatte den Drang, zu Ende zu bringen, was ich angefangen hatte.
Nachricht 2: Die ersten anderthalb Minuten von I’ve Gotta Get a Message to You von den Bee Gees.
Heute war es warm und ich konnte absolut alles riechen, was je in diesen Wald gepinkelt hatte. Ich schlug meinen gewohnten Weg ein.
Cole, ich bin’s.
Mein Gott, ich wurde noch verrückt. Wenn ich nicht Isabels Stimme hörte, dann Victors, und langsam wurde es mir echt ein bisschen zu voll in meinem Kopf. Wenn ich mir nicht gerade vorstellte, wie ich Isabel ihren BH auszog, versuchte ich das Telefon durch pure Willenskraft zum Klingeln zu bewegen, und wenn ich das nicht machte, erinnerte ich mich daran, wie Isabels Vater Victors Leiche in die Auffahrt geworfen hatte. Wenn man Sam noch dazu nahm, lebte ich wie mit drei Geistern.
Nachricht 3: »Mir ist langweilig. Ich brauche dringend Unterhaltung. Sam hockt nur traurig in der Ecke. Vielleicht sollte ich ihn mit seiner eigenen Gitarre erschlagen. Dann hätte ich was zu tun und er würde höchstwahrscheinlich mal den Mund aufmachen. Zwei Fliegen mit einer Klappe. Wenn man drüber nachdenkt,
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