In deinen Augen
Spiegel.
Rilke schreibt: »Dieses heißt Schicksal: gegenüber sein und nichts als das und immer gegenüber. «
Ohne Grace hatte ich nichts mehr als die Lieder über ihre Stimme und die Lieder über den Nachhall, der blieb, als sie aufhörte zu sprechen.
Und dann rief sie an.
Als das Telefon klingelte, hatte ich gerade den warmen Tag zum Anlass genommen, den VW zu waschen und die letzten Reste der Schicht aus Salz und Sand abzuschrubben, mit der ihn der ewige Winterschnee überzogen hatte. Ich hatte die vorderen Fenster heruntergekurbelt, damit ich bei der Arbeit Musik hören konnte. Gerade lief ein rhythmisches Gitarrenstück mit gegenläufigen Harmonien und einer sich in die Höhe schraubenden Melodie, die ich ab jetzt bis in alle Ewigkeit mit der Hoffnung dieses Moments assoziieren würde, des Moments, in dem sie mich anrief und fragte: Kommst du mich holen 7 .
Das Auto und meine Arme waren schaumbedeckt und ich hielt mich nicht damit auf, irgendetwas abzutrocknen. Ich warf nur mein Telefon auf den Beifahrersitz und drehte den Schlüssel im Zündschloss. Beim Ausparken aus der Einfahrt hatte ich es so eilig, dass mein Fuß, als ich vom Rückwärtsgang in den ersten schaltete, von der Kupplung rutschte und der Motor aufheulte, laut, laut, lauter. Der schrill aufsteigende Laut passte zum Hämmern meines Herzens.
Der Himmel über mir war weit und blau und voller weißer Wolken mit flirrenden Eiskristallen darin, die zu weit oben hingen, als dass ich sie hier auf der warmen Erde hätte spüren können. Ich war schon zehn Minuten unterwegs, als mir auffiel, dass ich vergessen hatte, die Fenster wieder hochzukurbeln; der Fahrtwind hatte die Schaumreste an meinen Armen zu weißen Streifen getrocknet. Als ein anderes Auto vor mir auftauchte, raste ich trotz Überholverbots an ihm vorbei.
In zehn Minuten würde ich Grace bei mir auf dem Beifahrersitz haben. Dann wäre alles in Ordnung. Ich konnte schon spüren, wie sie ihre Finger mit meinen verflocht, wie sie ihre Wange an meinen Hals schmiegte. Es schien Jahre her zu sein, seit ich das letzte Mal die Arme um ihren Körper geschlungen, mit den Händen ihre Taille umfasst hatte. Jahrzehnte, seit ich sie geküsst hatte. Jahrhunderte, seit ich sie hatte lachen hören.
Das Gewicht meiner Hoffnung drohte mich zu erdrücken. Ich klammerte mich an der unglaublich banalen Tatsache fest, dass Cole und ich uns seit zwei Monaten fast ausschließlich von Marmeladentoast, Dosenthunfisch und Tiefkühlburritos ernährten. Wenn Grace wieder da war, musste sich das ändern. Ich meinte, irgendwo noch ein Glas Spaghettisoße und eine Packung Nudeln gesehen zu haben. Auf einmal schien es mir unendlich wichtig, dass wir zu ihrer Rückkehr etwas Anständiges zu essen hatten.
Jede Minute brachte mich näher zu ihr. In meinem Hinterkopf machten sich drängende Sorgen breit, die größte davon Grace’ Eltern. Sie waren überzeugt, dass ich etwas mit ihrem Verschwinden zu tun hatte, denn schließlich hatte sie sich unmittelbar vor ihrer Verwandlung noch meinetwegen mit ihnen gestritten. In den zwei Monaten, die Grace fort gewesen war, hatte die Polizei mein Auto durchsucht und mich verhört. Grace’ Mutter fand immer wieder Vorwände, um an der Buchhandlung vorbei zu spazieren, wenn ich gerade dort arbeitete, und durchs Schaufenster zu mir herein zu starren, während ich so tat, als bemerkte ich sie nicht. In der Lokalzeitung erschienen Artikel über Grace’ und Olivias Verschwinden, in denen man alles über mich erfuhr außer meinem Namen.
Tief in meinem Inneren war mir klar, dass das alles – Grace ein Wolf, ihre Eltern die Feinde, ich in meinem neuen Körper in Mercy Falls – ein gordischer Knoten war, unmöglich zu lösen und zu glätten. Aber wenn ich Grace erst mal zurückhatte, würde sich das sicher alles regeln lassen.
Fast wäre ich an Ben ’s Fish and Tackle vorbeigefahren, einem unscheinbaren Gebäude, größtenteils verborgen hinter buschigen Kiefern. Als ich auf den Parkplatz einbog, geriet der VW ins Schlingern; die Schlaglöcher im Kies waren tief und voll mit schlammigem Wasser, das hörbar gegen den Unterboden des Wagens spritzte. Ich bremste und ließ den Blick über das Gelände schweifen. Hinter dem Haus standen ein paar Umzugswagen. Und daneben, dicht bei den Bäumen …
Ich ließ das Auto mit laufendem Motor am Rand des Parkplatzes stehen und stieg aus. Ich sprang über eine hölzerne Eisenbahnschwelle und hielt dann an. Vor mir im nassen Gras lag ein
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