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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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hierhergebracht hatten. Dieser Fehlschlag, dieser Verlust, das alles stürzte nun wieder auf mich ein und ich hätte mich am liebsten einfach nur zu Hause in meinem Bett zusammengerollt.
    »Essen«, ergänzte ich. »Schlaf. Das brauche ich zumindest jetzt. Ich muss hier raus.«
    Cole starrte mich an, als hätte ich Enten und Yoga gesagt.
    Ich stand auf und stellte mich ihm gegenüber. »Anders als ihr mit euren wild wütenden Wolfsinfektionen muss ich nämlich morgen zur Schule, besonders nachdem ich heute schon blaugemacht habe, um dir zu helfen.«
    »Warum bist du denn jetzt so sauer?«
    »Ich bin nicht sauer«, entgegnete ich. »Ich bin müde. Ich will einfach nach Hause. Schätze ich.« Obwohl die Vorstellung, nach Hause zu fahren, irgendwie auch nicht sonderlich verlockend wirkte.
    »Du bist wohl sauer«, widersprach er. »Ich hab’s doch bald geschafft, Isabel. Ich hab es bald. Ich glaube, ich … ich bin wirklich ganz nah dran. Ich muss mit Sam reden. Wenn ich ihn dazu kriege, dass er mit mir redet.«
    Und plötzlich war er nur noch ein müder, gut aussehender Junge, kein Rockstar mit Zehntausenden von Fans, die sich alle fragten, wo er abgeblieben war, und auch kein Genie mit einem so übergroßen Gehirn, dass es dagegen rebellierte, benutzt zu werden, und stattdessen immer neue Wege fand, sich selbst zu zerstören.
    Als ich ihn so sah, hatte ich auf einmal das Gefühl, irgendetwas von ihm zu brauchen, oder von sonst wem, und das bedeutete vermutlich, dass er auch etwas von mir brauchte, oder von sonst wem, aber diese Erkenntnis war ungefähr so aufschlussreich, wie sich rote Punkte unter einer Linse anzusehen. Zu wissen, dass etwas für jemanden eine Bedeutung hatte, war nicht dasselbe, als wenn es für einen selbst eine hatte.
    Und dann hörte ich ein vertrautes Geräusch – das Knacken des Schlosses an der Tür am anderen Ende des Flurs, als der Bolzen sich zurückschob. Jemand war hier.
    »Scheiße, Scheiße, Scheiße!«, zischte ich. Mir blieben ungefähr zwei Sekunden, um mir einen Plan auszudenken. »Nimm deine Sachen und dann ab unter den Tisch!« Cole schnappte sich sein Glasplättchen und seinen Saft und die Verpackung des Pflasters und ich vergewisserte mich, dass er sicher unter dem Tisch hockte, bevor ich das Licht ausknipste und mich neben ihm versteckte.
    Die Eingangstür öffnete sich mit langsamem Geklacker und schlug dann dumpf wieder zu. Ich hörte den verärgerten Seufzer meiner Mutter, laut und dramatisch genug, um bis ins Labor zu dringen. Ich hoffte sehr, ihre Verärgerung war darauf zurückzuführen, dass sie dachte, jemand hätte das Flurlicht angelassen.
    Von Cole war in der Dunkelheit nichts zu sehen außer dem Glitzern seiner Augen, in denen sich das Licht vom Flur spiegelte. Unter dem Tisch war nicht gerade viel Platz und wir hockten dort Knie an Knie, Fuß auf Fuß, unmöglich zu sagen, welcher Atemzug von wem kam. Wir waren beide mucksmäuschenstill und lauschten auf die Schritte meiner Mutter. Ich hörte ihre Absätze in einem der vorderen Räume klappern – wahrscheinlich im Empfangsbereich. Ein paar Sekunden blieb sie dort stehen und raschelte mit irgendwas. Cole verschob seinen Fuß, damit mein Stiefel sich nicht so in seinen Knöchel bohrte. Ich hörte irgendwas in seiner Schulter knacken, als er sich bewegte. Dann stützte er den Arm an der Wand hinter mir ab. Meine Hand war irgendwie zwischen seine Beine geraten, also zog ich sie rasch zurück.
    Wir warteten.
    Meine Mutter sagte laut und deutlich: »Verdammt.« Sie lief über den Flur und in eins der Behandlungszimmer. Mehr Papiergeraschel. Unter dem Tisch war es stockfinster, zu dunkel, als dass sich meine Augen daran gewöhnt hätten, und es fühlte sich an, als hätten wir beide zusammen mehr Beine, als wir sollten. Meine Mutter ließ einen Packen Papier fallen; ich konnte das Rauschen und Klicken hören, mit dem die Blätter auf dem Boden landeten und gegen den Behandlungstisch flatterten. Diesmal fluchte sie nicht.
    Cole küsste mich. Ich hätte ihm befehlen müssen, damit aufzuhören, stillzuhalten, aber ich wollte es auch. Ich rührte mich nicht aus meiner zusammengekrümmten Haltung an der Wand, sondern ließ mich einfach wieder und wieder von ihm küssen. Es war die Art von Kuss, von dem man sich nicht so schnell wieder erholte. Man hätte jeden unserer Küsse nehmen können, vom allerersten Augenblick an, und sie auf Glasplättchen unter ein Mikroskop legen, und ich war mir ziemlich sicher, was man dann

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