In deinen Augen
fast jeden Abend in den Nachrichten erwähnt.
Ich war – na ja, nicht unbedingt glücklich. Aber nahe dran. Ich wusste, dass das nicht mein wirkliches Leben war, es war ein geborgtes Leben. Eins, in das ich einstweilen hineingeschlüpft war, bis ich mein eigenes wieder im Griff hatte. Der Tag, an dem die Jagd auf die Wölfe stattfinden sollte, schien mir weit weg, ungewiss, aber vergessen konnte ich ihn auch nicht. Nur weil ich nicht wusste, was ich unternehmen sollte, bedeutete das nicht, dass nicht dringend etwas unternommen werden musste.
Am Mittwoch rief ich Koenig an und bat ihn, mir den Weg zu seiner Halbinsel zu beschreiben, damit ich mir einen gründlichen Überblick über ihr Potenzial verschaffen konnte. Genau das sagte ich: »einen gründlichen Überblick über ihr Potenzial«. Diesen Effekt schien Koenig einfach auf mich zu haben.
»Ich glaube«, sagte Koenig und betonte dabei glaube so stark, dass deutlich wurde, dass er eigentlich weiß meinte, »es wäre besser, wenn ich mit dir dort rausfahre. Wir wollen ja nicht, dass du auf der falschen Halbinsel landest. Am Samstag hätte ich Zeit.«
Erst nachdem wir aufgelegt hatten, begriff ich, dass er einen Witz gemacht hatte, und fühlte mich mies, weil ich nicht gelacht hatte.
Am Donnerstag rief die Zeitung an. Was ich ihnen zum Vermisstenfall Grace Brisbane zu sagen hätte?
Nichts. Nichts hatte ich ihnen zu sagen. Meiner Gitarre hatte ich am Abend zuvor Folgendes gesagt:
you can’t lose a girl you misplaced years before stop looking
stop looking
Aber der Song war noch nicht für die Veröffentlichung bereit, also legte ich auf, ohne irgendetwas zu sagen.
Am Freitag erklärte Grace, dass sie mit mir und Koenig zu der Halbinsel fahren würde. »Ich will, dass Koenig mich sieht«, sagte sie. Sie saß auf meinem Bett und sortierte Socken, während ich mich an verschiedenen Arten versuchte, Handtücher zu falten. »Wenn er weiß, dass ich noch lebe, kann es auch keinen Vermisstenfall mehr geben.«
Die Angst formte sich zu einem unverdaulichen Knoten in meinem Magen. Alle möglichen Folgen dieses Unterfangens keimten rasch und heftig in mir auf. »Aber dann sagt er bestimmt, dass du zurück zu deinen Eltern musst.«
»Dann fahren wir zu ihnen«, sagte Grace. Sie warf eine Socke mit einem Loch ans Fußende des Betts. »Erst zur Halbinsel, dann zu meinen Eltern.«
»Grace?«, fing ich an, aber ich wusste eigentlich gar nicht, was ich sie fragen wollte.
»Die sind doch sowieso nie zu Hause«, erklärte sie unerschrocken. »Und wenn doch, dann ist es Schicksal, dass ich mit ihnen reden soll. Jetzt guck mich nicht so an, Sam. Ich hab genug von dieser … von dieser Unsicherheit. Ich finde einfach keine Ruhe mit diesem Damoklesschwert über meinem Kopf. Ich lasse nicht zu, dass die Leute dich verdächtigen, mich … mich … was auch immer die denken, das du mir angetan hast. Mich entführt hast. Mich ermordet hast. Egal. Viel kann ich ja momentan nicht tun, aber das hier schon. Ich ertrag es einfach nicht, dass jemand so von dir denkt.«
»Aber deine Eltern …«
Grace rollte alle Socken ohne Gegenstück zu einem Riesenball zusammen. Ich fragte mich, ob ich wohl die ganze Zeit in Socken rumgelaufen war, die nicht zueinanderpassten. »Es dauert nur noch ein paar Monate, bis ich achtzehn bin, Sam, und dann können sie mir nicht mehr vorschreiben, was ich mache. Also entweder entscheiden sie sich für die harte Tour und sehen mich direkt nach meinem Geburtstag nie wieder oder sie können Vernunft annehmen und vielleicht reden wir dann eines Tages wieder mit ihnen. Ganz vielleicht. Stimmt es, dass mein Dad dich geschlagen hat? Das hat Cole mir erzählt.«
Sie las mir die Antwort am Gesicht ab.
»Also ja«, sagte sie und seufzte dann, das erste Anzeichen, dass dies ein schmerzhaftes Thema für sie war. »Und darum habe ich auch kein Problem damit, dieses Gespräch mit ihnen zu führen.«
»Ich hasse Konfrontationen«, murmelte ich. Das war vermutlich das Unnötigste, was ich je gesagt hatte.
»Ich kapier das nicht«, stöhnte Grace und streckte die Beine aus., »Wie kann ein Kerl, der so gut wie nie Socken trägt, so viele haben, die nicht zueinanderpassen?«
Wir beide blickten auf meine nackten Füße. Sie streckte die Hand aus, als könnte sie von ihrem Platz aus meine Zehen erreichen. Ich griff nach ihrer Hand und drückte einen Kuss in ihre Handfläche. Sie roch nach Butter und Mehl und nach zu Hause.
»Okay«, gab ich nach. »Wir machen
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