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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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nicht hier. Ich war weit weg. Wenn ich mir Mühe gegeben hätte, hätte ich eine Sammlung von Wörtern finden können, die sich zu einem Songtext formen ließen. Etwas, was mich aus diesem Augenblick herausholte und an einen anderen Ort brachte.
    Beck sah es. Er kannte mich, so gut, wie niemand sonst mich kannte, nicht einmal Grace, noch nicht. Er sagte: »Nicht, Sam. Zieh dich nicht zurück. Hör zu: Ich muss dir das sagen. Ich musste elf Jahre lang damit leben, Sam, elf fahre mit diesem Ausdruck auf deinem Gesicht, wenn dir klar wurde, dass du dich gleich verwandelst. Elf Jahre, in denen du mich gefragt hast, ob es dieses Jahr denn wirklich sein müsse. Elf Jahre –«
    An dieser Stelle brach er ab und schlug sich die Hand vor den Mund; seine zitternden Finger schlossen sich um seinen Kiefer. Er war so viel weniger als der Beck bei unserer letzten Begegnung. Dies hier war nicht der Beck aus dem Sommer. Es war der Beck eines Jahres, das in den letzten Zügen lag. In seinem Körper war nichts von seiner gewohnten Kraft, nur in seinen Augen.
    Plötzlich durchzuckte Coles Stimme den Raum. »Sam, du weißt, dass ich dabei war, mich umzubringen, als er mich gefunden hat. Und damals hatte ich auch schon ziemlich viel Übung.« Sein Blick lag auf mir, fest, wie eine Herausforderung. »Wenn er nicht gewesen wäre, wäre ich jetzt tot. Er hat mich nicht gezwungen. Und Victor auch nicht. Wir haben uns beide dafür entschieden. Es war nicht wie bei dir.«
    Ich wusste, dass er die Wahrheit sagte. Ich wusste, dass es damals zwei Coles gegeben hatte und wohl auch immer geben würde: den Cole, der nur mit seinem Lächeln eine Menschenmenge zum Schweigen bringen konnte, und den Cole, der flüsternd Songs darüber sang, dass er nach seinen Alpen suchte. Und ich wusste, dass Beck dadurch, dass er Cole von der Bühne geholt hatte, diesen zweiten, besonneneren Cole zutage gefördert und ihm eine Chance aufs Leben gegeben hatte.
    Genau wie mir. Beck hatte mich gebissen, aber es waren meine Eltern gewesen, die mich zerstört hatten, nicht er. Ich war zu ihm gekommen wie ein zerknülltes Blatt Papier und er hatte mich behutsam glatt gestrichen. Es war nicht nur Cole, den er wieder aufgebaut hatte.
    Es gab so viele verschiedene Versionen von ihm, wie unzählige Fassungen eines Songs – alle waren das Original, alle enthielten die Wahrheit, alle waren richtig. Auch wenn das eigentlich nicht hätte möglich sein dürfen. Musste ich sie alle lieben?
    »Okay«, sagte Beck und seine Stimme brauchte einen Augenblick, um sich zu festigen. »Okay. Wenn ich nur zehn Minuten habe, Sam, dann will ich dir das hier sagen. Du bist nicht der Beste von uns. Du bist weit mehr als das. Du bist so viel besser als wir alle zusammen. Wenn ich nur zehn Minuten habe, dann will ich dir sagen, dass du da rausgehen und leben sollst. Ich will dir sagen … bitte nimm deine Gitarre und sing deine Lieder für so viele Menschen wie möglich. Bitte falte noch tausend Stück von diesen verdammten Vögeln. Bitte küss dieses Mädchen eine Million Mal.«
    Beck brach plötzlich ab und krümmte sich zusammen, das Gesicht auf den Knien, die Hände hinter dem Kopf verkrampft. Ich sah, wie die Muskeln in seinem Rücken zuckten. Ohne den Kopf zu heben, flüsterte er: »Und bitte vergiss mich. Ich wünschte, ich wäre ein besserer Mensch gewesen, aber das war ich nicht. Bitte vergiss mich.«
    Die Knöchel seiner Fäuste hinter dem Kopf waren noch immer weiß.
    So many ways to say good-bye.
    Ich sagte: »Das will ich nicht.«
    Beck hob den Kopf. Ich konnte sehen, wie an seinem Hals der Puls schlug, hart und schnell.
    Grace ließ mich los und ich wusste, dass sie mich damit losschickte, die Treppe hinunter. Sie hatte recht. Ich nahm immer zwei Stufen auf einmal. Beck versuchte aufzustehen, aber es gelang ihm nicht, doch im selben Moment kniete ich schon vor ihm. Wir berührten einander beinahe mit der Stirn. Beck zitterte krampfartig.
    Viele, viele Tage vor diesem war es Beck gewesen, der vor mir gekniet hatte, während ich zitternd auf dem Boden lag.
    Ich fühlte mich genauso unsicher in meiner Haut wie Beck. Es war, als hätte ich all meine Papierkranicherinnerungen auseinandergenommen und etwas ganz Unbekanntes darauf gedruckt gefunden. Irgendwann einmal war Hoffnung in einen dieser Vögel eingefaltet worden. Mein Leben lang hatte ich gedacht, meine Geschichte müsste so lauten, immer wieder aufs Neue: Es war einmal ein Junge, der musste alles aufs Spiel setzen, um zu behalten,

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