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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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rund um Mund und Augen, die wirkten, als würden sie lieber lächeln, die zusammengezogenen Augenbrauen, ernst und besorgt. Er rieb sich mit der Hand durch sein kurzes kastanienbraunes Haar und sah dann zu Sam hoch. Er klang völlig elend. »Wirst du jemals wieder mit mir sprechen?«
SAM
    Hier stand Beck, direkt vor mir, schon wieder auf dem Weg zurück zum Wolf, und jedes Wort, das ich je in mir gehabt hatte, war mir abhandengekommen.
    »Ich überlege die ganze Zeit, was ich sagen soll«, fuhr Beck fort, den Blick auf mich gerichtet. »Ich habe vielleicht zehn Minuten mit meinem erwachsenen Sohn, von dem ich nicht gedacht hätte, dass er älter als achtzehn werden würde. Was soll ich sagen, Sam? Was soll ich sagen?«
    Ich klammerte mich an das Treppengeländer vor mir, so fest, dass meine Fingerknöchel weiß wurden. Ich hätte derjenige sein müssen, der die Fragen stellte, nicht Beck. Er musste die Antworten liefern. Was erwartete er denn von mir? Ich konnte keinen Meter gehen, ohne in die Fußstapfen zu treten, die er hinterlassen hatte.
    Beck kauerte sich vor einen der Heizlüfter, doch er ließ mich nicht aus den Augen. »Vielleicht gibt es ja nach alldem auch nichts mehr zu sagen. Ach, ich …« Er schüttelte kaum merklich den Kopf und sah zu Boden. Seine Füße waren blass und voller Narben. Irgendwie erinnerten sie mich an Kinderfüße.
    Es war still im Raum. Alle beobachteten mich, als wäre es an mir, den nächsten Schritt zu machen. Aber mich beschäftigte dieselbe Frage wie ihn: Was sollte ich sagen, in nur zehn Minuten? Es gab tausend Dinge, die gesagt werden mussten. Dass ich nicht wusste, wie ich Grace helfen sollte. Dass Olivia tot war, dass die Polizei mich im Auge behielt. Unser Schicksal liegt in Coles Reagenzgläsern, was sollen wir machen, wie bringen wir uns in Sicherheit, wie kann ich Sam sein, wenn Winter dasselbe bedeutet wie Sommer?
    Als ich schließlich etwas sagte, war meine Stimme rau und leise. »Bist du gefahren?«
    »Ja«, sagte Beck sanft. »Ja, das willst du wissen, das verstehe ich.«
    Ich hatte die Hände in die Taschen geschoben. Ich hätte sie gerne herausgezogen und die Arme verschränkt, aber ich wollte nicht unsicher wirken. Obwohl Grace vollkommen still dastand, sah sie aus, als würde sie sich bewegen, als wollte sie sich gern bewegen, aber ihre Füße hätten sich noch nicht dazu entschlossen. Ich wollte sie hier bei mir haben. Ich wollte nicht, dass sie seine Antwort hörte. Ich bestand nur noch aus Widersprüchen.
    Beck schluckte. Als er wieder zu mir hochsah, war sein Gesichtsausdruck wie eine weiße Fahne. Er ergab sich meinem Urteil, kapitulierte vor der Wahrheit. »Ulrik ist gefahren«, sagte er.
    Meiner Kehle entwich ein Laut, kaum hörbar, als ich das Gesicht abwandte. Ich wollte einen der Kartons aus meinem Kopf nehmen und mich darin verkriechen, aber es war ja Beck gewesen, der mir das mit den Kartons überhaupt erst erzählt hatte. Also blieb mir nur dies: Ich, wie ich im Schnee lag, meine Haut blutig unter dem Himmel, über mir ein Wolf, und es war Beck.
    Ich konnte nicht daran denken.
    Ich konnte nicht aufhören, daran zu denken.
    Ich schloss die Augen, doch das Bild blieb.
    Etwas berührte mich am Ellbogen und ich öffnete die Augen wieder. Es war Grace, die mir besorgt ins Gesicht sah und meinen Arm so behutsam hielt, als wäre er aus Glas.
    »Ulrik ist gefahren«, wiederholte Beck und seine Stimme wurde ein bisschen lauter. »Die Wölfe waren Paul und ich. Ich … ich war mir nicht sicher, ob ich mich darauf verlassen konnte, dass Ulrik bei der Sache blieb. Paul wollte nicht. Ich hab ihn dazu gedrängt. Du musst mir nicht verzeihen. Das kann ich ja nicht einmal selbst. Egal, wie viel ich danach auch richtig gemacht habe, das, was ich dir angetan habe, wird immer falsch bleiben.« Er hielt inne. Atmete langsam und zittrig ein.
    Diesen Beck kannte ich nicht.
    Grace flüsterte mir ins Ohr: »Sieh ihn wenigstens an, Sam. Du weißt nicht, wann ihr euch wiederseht.«
    Und ich tat es, weil sie mich darum bat.
    »Als ich dachte, es wäre dein letztes Jahr, da …« Beck beendete den Satz nicht. Er schüttelte den Kopf, wie um den Nebel in seinen Gedanken loszuwerden. »Ich hätte nie gedacht, dass der Wald dich vor mir holen würde. Und da musste ich es wieder tun – jemanden finden, der sich um uns kümmert. Aber – hör zu, Sam – diesmal hab ich versucht, es richtig zu machen.«
    Er wartete immer noch auf eine Reaktion von mir. Doch es gab keine. Ich war

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