In deinen Augen
also hatte ich sie abholen müssen. Zur Begrüßung hielt sie nur ihr perlenbesticktes Handtäschchen mit einem Smileygesicht darauf hoch und schenkte mir ein schmales weißes Lächeln. Es musste an der Dunkelheit liegen, beschloss ich, dass es mir so surreal vorkam, in die Auffahrt meiner Eltern einzubiegen. Denn nur mit dem Verandalicht, das die Front des Hauses und ein Stückchen der Einfahrt beleuchtete, sah hier alles genauso aus wie in der Nacht, als ich fortgegangen war.
Ich zog die Handbremse an und hielt neben dem Wagen, den ich mit dem Erlös aus der Versicherung für meinen letzten gekauft hatte – und mit einem Schlag erinnerte ich mich an noch eine andere Nacht, in der ein Hirsch die Windschutzscheibe des Bronco durchbrochen hatte und ich sicher gewesen war, Sam für immer an die Wölfe verloren zu haben. Es kam mir vor, als wäre das vor einer Million Jahre gewesen, und dann wieder, als wäre es erst wenige Stunden her. Der heutige Abend fühlte sich an wie ein Anfang und ein Ende zugleich.
Rachel neben mir kramte eine Tube Erdbeerlipgloss aus ihrem Smileytäschchen. Mit wilder Entschlossenheit trug sie zwei Lagen fruchtigen Schutzpanzer auf und packte ihn dann grimmig wieder ein. So marschierten wir zur Haustür, zwei Waffenschwestern, das Geräusch unserer Schritte auf dem Betonweg unser einziger Kampfschrei. Ich hatte keinen Schlüssel, also musste ich klingeln.
Jetzt, als ich hier war, wäre ich am liebsten wieder gegangen.
Rachel sah mich an. Sie sagte: »Du bist so was wie meine liebste große Schwester. Was überhaupt keinen Sinn ergibt, weil du genauso alt bist wie ich.«
Ich fühlte mich geschmeichelt, entgegnete aber: »Rachel, du redest wirr.«
Wir beide lachten und es waren unsichere kleine Laute, fast geräuschlos.
Rachel tupfte sich die Lippen am Ärmel ab; im gelben Licht der mottenumschwirrten Verandalampe sah ich die Stellen, wo sie dasselbe schon vorher gemacht hatte, wie eine kleine Sammlung von Küssen auf dem Ärmelaufschlag.
Ich überlegte, was ich sagen sollte. Ich überlegte, wer von ihnen wohl die Tür aufmachen würde. Es war fast neun. Vielleicht würde überhaupt niemand aufmachen. Vielleicht Es war Dad. Bevor er auch nur die Gelegenheit hatte, irgendwie darauf zu reagieren, dass ich es war, rief meine Mutter aus dem Wohnzimmer: »Lass nicht die Katze raus!«
Dad starrte Rachel an und dann mich, während sich eine braun getigerte Katze, klein wie ein Kaninchen, durch den Türspalt schlich und in den Vorgarten sauste. Ich fühlte mich seltsam verraten durch die Anwesenheit dieser Katze. Ihre einzige Tochter war verschwunden und sie hatten sich ein Katzenbaby gekauft, um mich zu ersetzen?
Und das war auch das Erste, was ich sagte. »Ihr habt jetzt eine Katze?«
Mein Vater war so schockiert von meinem Anblick, dass er ehrlich antwortete. »Deine Mutter hat sich einsam gefühlt.«
»Katzen sind ja sehr pflegeleicht.« Das war sicher nicht die wohlwollendste aller Entgegnungen, aber seine Worte hatten ja schließlich auch nicht gerade warmherzig geklungen. Irgendwie hatte ich erwartet, die Spuren meiner Abwesenheit in seinem Gesicht zu entdecken, aber er wirkte wie immer. Mein Vater verkaufte teure Immobilien und genauso sah er auch aus. Er hatte einen gepflegten Haarschnitt, der sich seit den Achtzigern nicht verändert hatte, und ein Lächeln, das zu großzügigen Anzahlungen ermutigte. Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte. Blutunterlaufene Augen oder Tränensäcke oder dass er zehn Jahre älter aussah, zu- oder abgenommen hatte – irgendeinen konkreten Beweis für die Zeit, die ohne mich vergangen war, und dafür, dass es nicht leicht für ihn gewesen war. Mehr wollte ich gar nicht. Ein Indiz für ihren Schmerz. Irgendetwas, das bestätigte, dass es falsch von mir war, heute Abend die große Diskussion anzufangen. Aber da war nichts. Am liebsten hätte ich mich einfach wieder umgedreht und wäre gegangen. Sie hatten mich gesehen. Sie wussten, dass ich noch lebte. Mission erfüllt.
Dann kam meine Mutter um die Ecke in den Flur. »Wer ist denn da?« Sie erstarrte. »Grace?« Und bei dieser einen Silbe kippte ihre Stimme und ich wusste, dass ich doch reingehen würde.
Bevor ich Zeit hatte zu entscheiden, ob ich bereit für eine Umarmung war, befand ich mich schon mitten in einer; meine Mutter schlang die Arme fest um meinen Hals und presste mein Gesicht in die weiche Wolle ihres Pullovers. Ich hörte sie sagen: »Lieber Gott, danke, Grace, danke.« Sie schien
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