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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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anderen Seite in den Duschvorhang; als sie meine nackte Hüfte berührte, schreckte ich auf nicht gerade würdevolle Weise zurück. »Weißt du, so könnten wir sein, in fünf Jahren.«
    Ich hatte keine Körperteile mehr übrig, die ich noch waschen konnte. Ich war ein Gefangener in dieser Dusche, wenn ich nicht von meinem Platz hinter dem Vorhang an mein Handtuch kam oder Grace dazu bewegen konnte, es mir zu reichen. Ich glaubte nicht, dass sie es tun würde. »Was, Bäcker mit deutschem Akzent?«, fragte ich zurück.
    »Ja, genau das hab ich gemeint«, sagte sie in vernichtendem Tonfall. Ich war froh darüber. Im Moment konnte ich ein bisschen Ungezwungenheit gut vertragen.
    »Gibst du mir mein Handtuch?«
    »Komm doch raus und hol es dir selber.«
    »Kleines Biest«, murmelte ich. Es gab immer noch heißes Wasser. Ich blieb unter dem Strahl stehen und betrachtete den unebenen Mörtel in den Fugen unter dem Duschkopf. Meine Finger waren schon verschrumpelt wie Backpflaumen und die Haare an meinen Beinen klebten glatt auf der Haut und deuteten wie pitschnasse, fransige Pfeile auf meine Füße.
    »Sam?«, fragte Grace. »Meinst du, Cole hat recht, was das Heilmittel angeht? Dass das mit der Meningitis funktioniert, wenn man sie bekommt, während man ein Wolf ist? Meinst du, ich soll es versuchen?«
    Nach diesem Nachmittag, nach Beck, war das eine viel zu schwierige Frage. Ja, natürlich wollte ich, dass sie geheilt wurde. Aber dazu brauchte ich mehr Beweise als bloß mich selbst, dass es funktionierte. Irgendetwas, das Jacks grausames Schicksal auf einen niedrigeren Prozentsatz unter den wahrscheinlichen Ergebnissen reduzierte. Ich hatte alles dafür riskiert, doch jetzt, wo es für Grace so weit war, wollte ich nicht, dass sie dasselbe tat. Aber wie sollte sie ansonsten ein normales Leben führen?
    »Ich weiß nicht. Ich will erst mehr Informationen sammeln.« Das klang wieder so formell, wie etwas, das ich zu Koenig sagen würde. Ich habe die Datenerfassung noch nicht abgeschlossen.
    »Na ja, bis zum Winter müssen wir uns deswegen ja sowieso erst mal keine Sorgen machen«, sagte sie. »Ich hab mich nur gefragt, ob du dich geheilt fühlst.«
    Ich wusste nicht, was ich ihr sagen sollte. Ich fühlte mich nicht geheilt. Ich fühlte mich so, wie Cole gesagt hatte – noch nicht ganz geheilt. Ein Kriegsüberlebender mit Phantomschmerzen. Ich spürte den Wolf, der ich einst gewesen war, noch immer: Er lebte in meinen Zellen, lag dort in unruhigem Schlummer, wartete darauf, dass das Wetter oder ein Adrenalinschub oder eine Spritze ihn hervor-. lockte. Ich wusste nicht, ob es wirklich so war oder ob ich es mir nur einbildete. Ich wusste nicht, ob ich mich eines Tages sicher in meiner Haut fühlen würde, ob ich irgendwann meinen menschlichen Körper als selbstverständlich betrachten würde.
    »Auf jeden Fall siehst du geheilt aus«, sagte Grace.
    Am Rand des Duschvorhangs war nur ihr Gesicht zu sehen, das zu mir hereinlugte. Sie grinste und ich schrie auf. Grace streckte die Hand in die Dusche und drehte das Wasser ab.
    »Ich fürchte«, sagte sie, riss den Duschvorhang ganz auf und reichte mir mein Handtuch, »das ist die Sorte Dinge, mit denen du dich bis ins hohe Alter herumschlagen musst.«
    Triefnass stand ich da und kam mir unendlich blöd vor. Grace stand mir gegenüber und lächelte herausfordernd. Es ging nicht anders, irgendwie musste ich über mein Unbehagen hinwegkommen. Ich nahm ihr Kinn zwischen die nassen Fingerspitzen und küsste sie. Wasser rann aus meinen Haaren über meine Wangen und unsere Lippen. Ihr Oberteil wurde nass, aber das schien sie nicht zu stören. Die Aussicht, das hier für den Rest meines Lebens zu haben, kam mir eigentlich ziemlich reizvoll vor. »Ich hoffe, das ist ein Versprechen«, sagte ich schmunzelnd.
    Grace stieg mitsamt ihren Socken in die Dusche und schlang die Arme um meine feuchte Brust. »Das ist eine Garantie.«

KAPITEL 58
ISABEL
    Es klopfte leise an die Hintertür. Ich stieg über Gummistiefel, eine Pflanzschaufel und einen Sack Vogelfutter und machte auf.
    Cole St. Clair stand im schwarzen Rechteck des Türrahmens, die Hände in den Hosentaschen.
    »Bitte mich herein«, sagte er.

KAPITEL 59
GRACE
    Als Rachel und ich am Sonntagabend am Haus meiner Eltern ankamen, war es schon völlig dunkel. Rachel hatten ihre spektakulären Fahrkünste, deren Faszination sich der Polizei von Minnesota nicht recht erschließen wollte, vor Kurzem vorübergehend den Führerschein gekostet,

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