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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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entweder zu lachen oder zu weinen, aber als ich ein Stück zurückwich, sah ich kein Lächeln und auch keine Tränen. Ihre Unterlippe zitterte. Ich umklammerte meine Arme, um sie still zu halten.
    Ich hatte nicht erwartet, dass es so schwer sein würde zurückzukommen.
    Schließlich saß ich meinen Eltern am Küchentisch gegenüber. Viele Erinnerungen gruppierten sich um diesen Tisch, hauptsächlich daran, wie ich allein dort saß, aber schön waren sie trotzdem. Oder zumindest stimmten sie mich nostalgisch. Es roch komisch in der Küche, nach zu viel Imbissessen, das gegessen, eine Weile aufbewahrt und dann weggeworfen worden war. Irgendwie war das nie ganz der gleiche Geruch, als wenn man eine Küche tatsächlich benutzte, um darin zu kochen. Die ungewohnten Essensdünste ließen die ganze Situation wie einen Traum erscheinen, fremd und vertraut zugleich.
    Ich dachte, Rachel hätte mich im Stich gelassen und wäre wieder zurück ins Auto gestiegen, doch nach ein paar Augenblicken des Schweigens kam sie durch den Flur, das kleine Kätzchen auf dem Arm. Wortlos setzte sie es auf der Couch ab und stellte sich hinter mich. Ihr Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, dass sie am liebsten überall wäre, nur nicht hier. Sie sah so tapfer aus und mein Herz zog sich zusammen bei ihrem Anblick. Jeder sollte eine Freundin wie Rachel haben.
    »Das ist ein ziemlicher Schock, Grace«, sagte mein Vater auf der anderen Seite des Tisches. »Wir haben deinetwegen viel durchgemacht.«
    Meine Mutter fing an zu weinen.
    In diesem Augenblick änderte ich meine Meinung. Ich wollte keinen Beweis mehr für ihren Schmerz. Ich wollte meine Mutter nicht weinen sehen. So lange hatte ich gehofft, dass sie mich vermissten, mir gewünscht, dass sie mich so sehr liebten, dass mein Verschwinden ihnen wehtat, aber jetzt, als ich das Gesicht meiner Mutter sah, formte sich in meiner Kehle ein fester Kloß aus Schuldgefühlen und Mitleid. Ich wollte das Gespräch einfach hinter mir haben und auf dem Weg zurück nach Hause sein. Das hier war einfach zu schwer.
    Ich fing an: »Ich wollte euch nicht –«
    »Wir dachten, du wärst tot«, unterbrach mich mein Vater. »Und dabei warst du die ganze Zeit bei ihm. Du hast uns –«
    »Nein«, rief ich, »ich war nicht die ganze Zeit bei ihm!«
    »Wir sind einfach nur froh, dass es dir gut geht«, sagte Mom.
    Aber so weit war Dad noch lange nicht. »Du hättest anrufen können, Grace«, schimpfte er. »Dann hätten wir gewusst, dass du noch lebst. Das war doch alles, was wir gebraucht hätten.«
    Das glaubte ich ihm aufs Wort. Er brauchte nicht mich. Nur die Sicherheit, dass ich noch lebte. »Beim letzten Mal, als ich versucht habe, mit euch zu reden, habt ihr mir gesagt, dass ich Sam erst wiedersehen darf, wenn ich achtzehn bin, und alles komplett über meinen Kopf hinweg –«
    »Ich rufe die Polizei an und sage denen, dass du hier bist«, entschied Dad. Er war schon halb von seinem Stuhl aufgestanden.
    »Dad«, hielt ich ihn scharf zurück. »Erstens weiß die Polizei schon Bescheid. Und zweitens, du machst es schon wieder. Du hörst mir überhaupt nicht zu.«
    »Ich mache gar nichts«, protestierte er. Dann sah er Rachel an. »Warum hast du Rachel mitgebracht?«
    Als sie ihren Namen hörte, zuckte Rachel ein bisschen zusammen. »Ich bin der Schiedsrichter«, erklärte sie.
    Dad hob die Hände, als gäbe er nach, was Leute immer dann machten, wenn sie in Wirklichkeit kein Stück nachgaben, und dann presste er sie auf die Tischplatte, als hielten wir eine Séance ab und als versuchte der Tisch, sich zu bewegen.
    »Wir brauchen keinen Schiedsrichter«, schaltete sich Mom ein. »So unangenehm wird es ja wohl nicht zugehen.«
    »Doch, wird es«, widersprach Dad. »Unsere Tochter ist von zu Hause weggelaufen. Das ist ein Verbrechen, Amy. Ein echtes Verbrechen vor dem Gesetz von Minnesota. Ich werde nicht so tun, als wäre nichts passiert. Ich werde nicht so tun, als wäre sie nicht weggelaufen, um bei ihrem Freund zu wohnen.«
    Ich war mir nicht sicher, was genau an dieser Aussage dazu führte, dass ich plötzlich alles vollkommen klar sah. Dad exerzierte hier die Vaterrolle durch; wie auf Autopilot durchlief er das reaktionäre Verhaltensmuster, das er sich vermutlich in Fernsehsendungen und Sonntagnachmittagsfilmen abgeguckt hatte. Ich musterte die beiden: Mom, die sich über ihr junges Kätzchen beugte, das von der Couch gehüpft und ihr auf den Schoß gekrabbelt war, und Dad, der mich anstarrte, als

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