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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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an mir runter.
    »Ich hab keine Hose mehr an«, sagte ich.
    Cole blickte zur Türschwelle, wo meine Sachen lagen. »Nein, hast du nicht. So, jetzt halt aber still.«
    »Cole«, sagte ich. »Wenn ich nicht –«
    Er hörte den Unterton in meiner Stimme. »Nein. Wir sehen uns später.«
    Mit dem Zeigefinger fuhr Cole eine Ader von den Narben an meinem Handgelenk bis zu meiner Ellbogenbeuge nach. Ich schloss die Augen. Er stach mir die Nadel in den Arm.

KAPITEL 63
SAM
    Eine Sekunde lang, den Bruchteil einer Sekunde, ein Fragment eines Atemzugs, löschte der Schmerz jeden Gedanken in mir aus. Meine Adern schmolzen. Mein Körper erfand sich neu, steuerte einen anderen Kurs an, plante frische Knochen, während er gleichzeitig andere zu Staub zermalmte. Es gab keinen Teil von mir, der nicht völlig neu modelliert wurde.
    Ich hatte vergessen, wie qualvoll es war. Wie gnadenlos. Bei meiner ersten Verwandlung war ich sieben Jahre alt gewesen. Meine Mutter war die Erste gewesen, die es gesehen hatte. Im Moment erinnerte ich mich nicht einmal an ihren Namen.
    Meine Wirbelsäule barst.
    Cole ließ die Spritze auf die Türschwelle fallen.
    Der Wald sang zu mir, in einer Sprache, die ich nur als Wolf kannte.
    Beim letzten Mal, als das hier geschah, hatte ich Grace’ Gesicht vor mir gesehen. Beim letzten Mal, als das hier geschah, war es ein Abschied gewesen.
    Nie mehr. Keine Abschiede mehr.
    Ich bin Sam Roth. Ich finde Grace.

KAPITEL 64
ISABEL
    Ungefähr fünf Minuten nachdem Cole aufgelegt hatte, begriff ich, dass das, was er von mir verlangt hatte, gar nicht so furchtbar gewesen war. Nach zehn Minuten begriff ich, dass ich ihn sofort hätte zurückrufen sollen. Nach fünfzehn, dass er nicht ranging. Nach zwanzig, dass ich das mit dem Selbstmord nicht hätte sagen dürfen. Nach fünfundzwanzig, dass es vielleicht das Letzte war, was ich je zu ihm gesagt hatte.
    Warum hatte ich es gesagt? Vielleicht hatte Rachel ja doch recht gehabt mit ihrem Miststück-Kommentar. Ich wünschte, ich hätte gewusst, wie man meine Waffen von atomisieren auf betäuben umstellte.
    Nach einer Weile, die sich wie die halbe Nacht anfühlte, begriff ich, dass ich nie wieder in den Spiegel würde sehen können, wenn ich nicht versuchte, etwas gegen die Jagd zu unternehmen.
    Ein letztes Mal versuchte ich, erst Cole, dann Sam anzurufen – nichts –, und ging dann nach unten. Im Kopf probte ich schon mal, was ich zu meinem Vater sagen würde. Erst Argumente, dann Flehen und dann, ganz am Ende, eine Begründung für meinen Wunsch, die nicht zu Sam und Beck führen würde, denn das würde bei meinem Vater nichts nützen, da war ich mir sicher. Na ja, höchstwahrscheinlich würde es sowieso nichts nützen.
    Aber zumindest könnte ich Cole dann sagen, dass ich es versucht hatte. Dann würde ich mich vielleicht nicht mehr so elend fühlen.
    Ich hasste das. Das alles. Ich hasste es, mich wegen jemand anderem so schrecklich zu fühlen. Ich presste die Hand auf mein rechtes Auge, aber die Träne, die darin lauerte, blieb, wo sie war.
    Es war stockdunkel im ganzen Haus. Ich musste auf dem Weg nach unten auf jeden Lichtschalter drücken. In der Küche war niemand. Im Wohnzimmer auch nicht. Schließlich fand ich meine Mutter in der Bibliothek, wo sie entspannt auf dem Ledersofa saß, in der Hand ein Glas Weißwein. Im Fernseher lief eine Krankenhausdoku. Normalerweise wäre die Ironie des Ganzen nicht an mir vorbeigegangen, im Moment aber war alles, woran ich denken konnte, mein letzter Satz zu Cole.
    »Mom«, sagte ich und gab mir Mühe, es wie beiläufig klingen zu lassen. »Wo ist Dad?«
    »Hm?« Irgendetwas an diesem Hm schien mich zu erden, half mir, mich stabiler zu fühlen. Die Welt geriet nicht aus den Fugen. Meine Mutter machte immer noch hm, wenn ich sie etwas fragte.
    »Mein Vater. Die Kreatur, mit der du dich gepaart hast, um mich zu erschaffen. Wo ist er?«
    »Musst du denn immer solche Sachen sagen?«, sagte meine Mutter. »Er ist auf dem Weg zum Helikopter.«
    »Zum. Helikopter.«
    Meine Mutter löste kaum den Blick vom Fernseher. In meiner Stimme lag offenbar nichts, was sie alarmierte. »Marshall hat ihm einen Platz besorgen können. Er hat gesagt, bei einem so guten Schützen wäre das nur gerechtfertigt. Mein Gott, bin ich froh, wenn das Ganze vorbei ist.«
    »Dad fliegt in dem Helikopter mit, von dem aus die Wölfe abgeschossen werden sollen«, wiederholte ich. Ganz langsam. Ich kam mir vor wie ein Volltrottel. Selbstverständlich wollte mein

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