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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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Vater mit einem Großwildgewehr im Anschlag in der ersten Reihe sitzen. Und selbstverständlich konnte Marshall ihm diesen Wunsch auch erfüllen.
    »Sie fliegen zu irgendeiner nachtschlafenden Zeit ab«, sagte Mom. »Deswegen ist er schon mal los, mit Marshall Kaffee trinken. Bleibt mir nur der Fernseher.«
    Es war zu spät. Ich hatte zu lange mit mir gerungen und jetzt war es zu spät.
    Ich konnte nichts tun.
    Wenigstens den Versuch bist du mir schuldig, hatte Cole gesagt.
    Ich fand immer noch nicht, dass ich ihm irgendwas schuldig war. Dennoch schlich ich, bemüht, mir vor meiner Mutter nichts von meiner quälenden Unruhe anmerken zu lassen, aus der Bibliothek und zurück durchs Haus. Ich nahm meine weiße Jacke, meinen Autoschlüssel und mein Handy und stieß die Hintertür auf. Vor gar nicht langer Zeit hatte Cole hier als Wolf gestanden und mit seinen grünen Augen in meine geblickt. Ich hatte ihm erklärt, dass mein Bruder gestorben war. Dass ich kein netter Mensch war. Er hatte mich nur angesehen, ohne zu blinzeln, gefangen in diesem Körper, den er selbst gewählt hatte.
    Alles hatte sich verändert.
    Ich fuhr los und trat so hart aufs Gaspedal, dass die Reifen auf dem Kiesweg durchdrehten.

KAPITEL 65
SAM
    Ich bin Sam Roth. Ich finde Grace. Ich finde die Wölfe. Ich bringe sie zum See. Ich bin Sam Roth. Ich finde Grace. Ich finde die Wölfe. Ich bringe sie zum See.
    In gestrecktem Galopp preschte ich in den Wald. Meine Pfoten trommelten über Steine, meine Schritte verschlangen die Entfernung. Jeder Nerv in meinem Körper stand in Flammen. Ich hielt meine Gedanken wie einen Arm voller Papierkraniche. Fest genug, um sie nicht zu verlieren. Nicht so fest, dass ich sie zerquetschte.
    Ich bin Sam Roth. Ich finde Grace. Ich finde die Wölfe. Ich bringe sie zum See. Ich bin Sam Roth. Ich finde Grace. Ich finde die Wölfe. Ich bringe sie zum See.
    Es gab tausend Dinge zu hören. Tausend Dinge zu riechen. Hundert Millionen Spuren, die zu den zahllosen Lebensformen in diesem Wald führten. Aber so viele brauchte ich nicht. Ich brauchte nur eine.
    Sie lehnte sich an mich und atmete den Duft in einem Süßigkeitenladen ein. Jede Farbe, die ich jetzt nicht mehr sehen konnte, fand sich an den Wänden und Etiketten rings um uns wieder.
    Ich bin Sam Roth. Ich finde Grace. Ich finde die Wölfe. Ich bringe sie zum See.
    Die Nacht war hell unter dem Halbmond, dessen Licht von ein paar niedrig hängenden Wolken und fransigen Nebelschwaden reflektiert wurde. Ich konnte endlos weit blicken. Aber es waren nicht meine scharfen Augen, die mir hier helfen würden. Immer wieder verlangsamte ich meinen Lauf und lauschte. Grace. Ihr Heulen. Es war für mich bestimmt, da war ich sicher.
    Die Wölfe heulten; ich stand an ihrem Fenster und sah nach draußen. Wir waren Fremde und kannten einander doch so gut wie einen Weg, den wir jeden Tag gingen. Schlaf nicht auf dem Boden, sagte sie.
    Ich hin Sam Roth. Ich finde Grace. Ich finde die Wölfe. Ich bringe sie zum …
    Weitere Rufe erhoben sich, antworteten auf ihr Heulen. Es fiel mir nicht schwer, sie auseinanderzuhalten. Aber es fiel mir schwer, mich daran zu erinnern, warum ich sie auseinanderhalten musste.
    Ihre Augen, braun und nachdenklich, in einem Wolfsgesicht.
    Ich bin Sam Roth. Ich finde Grace. Ich finde die Wölfe.
    Ich geriet ins Straucheln, als meine Pfoten plötzlich über nassen Lehm schlitterten. Ich glaubte zu hören, wie ganz in der Nähe etwas in Wasser fiel.
    Eine Stimme in meinem Hinterkopf begann zu wispern. Etwas an dieser Situation war gefährlich. Ich wurde langsamer, sah mich aufmerksam um, und da war sie – eine riesige Grube, gefüllt mit Wasser, in dem man ertrinken konnte. Vorsichtig machte ich einen Bogen darum und lauschte weiter. Es war still geworden im Wald. Mein Geist stolperte und taumelte, sehnte sich nach – ich warf den Kopf in den Nacken und heulte, ein langer, zitternder Klageton, der half, den Schmerz in mir zu lindern. Kurz darauf hörte ich ihre Antwort und preschte wieder los.
    Ich finde Grace. Ich finde die Wölfe.
    Ein Schwarm Vögel stob vor mir auseinander, durch meine Hast aus ihren Nestern aufgeschreckt. Sie erhoben sich in die Luft, weiß vor schwarzem Grund, und etwas an der Vielzahl ihrer Gestalten, dem identischen Schwung ihrer Flügel, der Art, wie sie über mir im Wind schwebten, hinter sich die leuchtenden Sterne, erinnerte mich an etwas.
    Ich versuchte krampfhaft, den Gedanken festzuhalten, klammerte mich daran, aber er entglitt

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