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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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Zimmer. Langsam stieg ich die Treppe ins Erdgeschoss hinauf, dann in den ersten Stock. Ging den Flur hinunter zu meinem Zimmer. Darin zitterten meine Papierkraniche an ihren Schnüren, gefangen in der Vorahnung eines Erdbebens. Ich konnte jede Erinnerung sehen, die die Vögel bewahrten, Bilder flackerten über ihre Flügel wie über einen Fernsehbildschirm und sie alle sangen mit kristallklarer Stimme Lieder, die einst ich gesungen hatte. Sie waren wunderschön und außer sich vor Angst, versuchten hektisch, sich zu befreien.
    »Schlechte Nachrichten, Ringo«, sagte Cole. »Wir müssen alle sterben.«
    Das Klingeln des Telefons weckte mich.
    Das unerwartete Geräusch pumpte Adrenalin durch meinen noch halb schlafenden Körper und der erste Gedanke, den ich hatte, war unerklärlicherweise: Oh nein, nicht hier. Den Bruchteil eines Augenblicks später wurde mir klar, dass es nur das Telefon war, und ich verstand nicht, warum ich so etwas gedacht hatte. Ich griff nach dem Hörer.
    »Sam?«, sagte Koenig.
    Er klang überaus wach.
    »Ich hätte schon früher anrufen sollen, aber ich habe Nachtschicht und ich … na ja, spielt keine Rolle.« Koenig rang hörbar nach Luft. »Die Jagd findet früher statt.«
    »Sie – was?« Ich war nicht sicher, ob ich nicht vielleicht noch schlief, aber meine Kraniche hingen vollkommen reglos da.
    Koenig sagte, etwas lauter jetzt: »Morgen. Bei Tagesanbruch. Fünf Uhr siebenundvierzig, um genau zu sein. Der Helikopter wurde plötzlich frei und darum haben sie alles vorverlegt. Steh auf.«
    Das musste er mir nicht sagen. Mir war, als würde ich nie wieder schlafen.

KAPITEL 61
ISABEL
    Ich war noch nicht richtig eingeschlafen, als mein Telefon klingelte.
    Es war kurz nach Mitternacht und ich hatte sowieso nur aus purem Selbsterhaltungstrieb versucht zu schlafen. Je näher der Tag der Jagd und der drohende Umzug nach Kalifornien rückten, desto mehr stieg die Anspannung im Hause Culpeper und meine Eltern vertrieben sich die Zeit mit einem der Schreiduelle, die ich in den letzten Wochen so schmerzlich vermisst hatte. Es klang ganz so, als wäre meine Mutter kurz davor zu gewinnen – zumindest schien sie in den letzten zwanzig Minuten mehr laut herausgebrüllte Treffer gelandet zu haben als mein Vater –, aber auch, als wäre das noch lange nicht die letzte Runde.
    Also hatte ich die Tür zugemacht und meine Kopfhörer aufgesetzt, aus denen nun der unerträglichste Lärm und die aggressivsten Texte strömten, die ich nur finden konnte. Mein Zimmer war ein rosaweißer Kokon, der durch das fehlende Sonnenlicht etwas weniger bonbonartig wirkte. Hier, umgeben von meinen Sachen, hätte es jeder Tag jedes Jahres sein können, seit wir hergezogen waren. Ich hätte nach unten gehen können, den Flur runter, um Jack anzuschreien, weil er meinen Hund nicht rausgelassen hatte, während ich unterwegs war. Ich hätte meine Freunde zu Hause in Kalifornien anrufen können, die sich noch an mich erinnerten, und mit ihnen Pläne für meine Rückkehr und eine Tour durch die Colleges in der Gegend schmieden können. Dass das Zimmer so unverändert geblieben war, dass die Nacht mir solche Streiche spielen konnte, war tröstlich und erschreckend zugleich.
    Jedenfalls bekam ich es beinahe nicht mit, als mein Handy klingelte.
    »Becks Haus« stand auf dem Display.
    »Hi«, sagte ich.
    »Rat mal, was dein Arschloch von Vater jetzt wieder gemacht hat!« Cole wirkte ein bisschen außer Atem.
    Mir war nicht nach antworten. So hatte ich mir mein nächstes Telefongespräch mit Cole nicht gerade vorgestellt.
    »Uns gefickt«, fuhr Cole fort, ohne auf eine Antwort zu warten. »Auf dem Rücksitz von ’nem getunten Honda. Die Jagd geht bei Tagesanbruch los. Die haben sie vorverlegt.«
    Wie aufs Stichwort fing nun auch das Festnetztelefon auf meinem Nachttisch an zu klingeln. Ich ging nicht ran, aber selbst von hier aus konnte ich sehen, was auf dem Display stand: »Landy, Marshall«. Was bedeutete, dass mein Dad und ich so ziemlich das gleiche Gespräch zur gleichen Zeit führen würden, nur mit unterschiedlichen Menschen.
    Das Geschrei unten hatte aufgehört. Es dauerte eine Weile, bis diese Tatsache zu mir durchdrang.
    »Was habt ihr jetzt vor?«, fragte ich.
    »Na, zuerst muss ich Sam wieder funktionstüchtig kriegen«, erwiderte Cole. »Grace hat sich heute Abend verwandelt und ist irgendwo da draußen im Wald, also dreht er ein klitzekleines bisschen am Rad.«
    Jetzt war ich hellwach. Ich zog den einzelnen Kopfhörer,

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