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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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Minuten dafür brauchte, würde ich Cole eine Nachricht schreiben und sie ihm an die Schlafzimmertür kleben. Wenn ich gewann und den Herzkönig als Erstes ablegte, würde ich ihn von der Arbeit aus anrufen und ihm eine Liste von Statuten vorlesen.
    Zwischen den einzelnen Solitärspielen probierte ich in meinem Kopf Sätze aus. Irgendwo gab es Worte, die Cole meine Sorgen erklären würden, ohne bevormundend zu wirken. Worte, die taktvoll, aber überzeugend waren. Aber dieses Irgendwo schien kein Ort zu sein, den ich in naher Zukunft finden würde.
    Von Zeit zu Zeit schlich ich mich aus Becks Arbeitszimmer den düsteren grauen Flur hinunter bis zur Wohnzimmertür, dort blieb ich stehen und beobachtete Cole, noch immer durch den Anfall ausgeknockt, bis ich sicher war, ihn atmen gesehen zu haben. Dann trieben mich mein Frust und mein Ärger zurück ins Arbeitszimmer, um noch mehr sinnlose Pläne zu schmieden.
    Meine Augen brannten vor Müdigkeit, aber ich durfte nicht schlafen. Wenn Cole aufwachte, würde ich vielleicht mit ihm reden. Falls ich gerade bei Solitär gewonnen hatte. Ich konnte nicht riskieren, dass er aufwachte, ohne dass ich sofort mit ihm reden konnte. Ich war mir noch nicht mal sicher, warum ich das nicht riskieren durfte, ich wusste bloß, dass ich nicht schlafen gehen konnte, wenn jederzeit die Möglichkeit bestand, dass er aufwachte.
    Als das Telefon klingelte, schrak ich so heftig zusammen, dass Becks Stuhl sich zu drehen anfing. Ich ließ ihn die Runde zu Ende machen und griff dann vorsichtig nach dem Hörer. »Hallo?«
    »Sam«, sagte Isabel. Ihre Stimme klang forsch und sachlich. »Hast du einen Moment Zeit zu plaudern?«
    Plaudern. Ich hatte einen ganz speziellen Hass für das Telefon als Plaudermedium reserviert. Es gestattete keine Pausen, kein Schweigen, kein Durchatmen. Es hieß immer entweder sprechen oder gar nichts, und das kam mir unnatürlich vor. »Ja«, antwortete ich argwöhnisch.
    »Ich hatte vorhin keine Gelegenheit, es dir zu erzählen«, sagte Isabel, immer noch mit der scharfen, betont deutlichen Aussprache einer Geldeintreiberin. »Mein Vater trifft sich mit einem Abgeordneten, weil er den Artenschutz der Wölfe aufheben lassen will. Stichwort Hubschrauber. Und Scharfschützen.«
    Ich sagte nichts. Das war nicht das, wovon ich gedacht hatte, dass sie darüber plaudern wollte. Becks Stuhl hatte immer noch ein wenig Schwung, also ließ ich ihn eine weitere Drehung machen. Meine müden Augen fühlten sich an, als würden sie direkt in meinem Schädel eingemacht wie saure Gurken. Ich fragte mich, ob Cole schon wach war. Ich fragte mich, ob er noch atmete. Ich erinnerte mich an einen kleinen Jungen mit Mütze auf dem Kopf, der von Wölfen in eine Schneewehe gedrückt wurde. Ich überlegte, wie weit Grace mittlerweile wohl schon weg war.
    »Sam. Hast du gehört?«
    »Hubschrauber«, wiederholte ich. »Scharfschützen. Ja.«
    Ihre Stimme klang kühl. »Grace, aus dreihundert Meter Entfernung in den Kopf geschossen.«
    Das traf mich, aber mit etwa derselben Intensität, wie es entfernte, hypothetische Schrecken, irgendwelche Katastrophen in den Nachrichten, taten. »Isabel«, sagte ich. »Was willst du von mir?«
    »Das, was ich immer von dir will«, antwortete sie. »Taten.«
    Und in diesem Moment vermisste ich Grace mehr als je zuvor in den vergangenen zwei Monaten. Ich vermisste sie so sehr, dass ich einen Augenblick lang tatsächlich keine Luft bekam, als wäre ihre Abwesenheit ein Fremdkörper, der in meiner Kehle feststeckte. Nicht weil es die Probleme nicht mehr gegeben hätte, wenn sie hier gewesen wäre, oder weil Isabel mich dann in Ruhe gelassen hätte. Nur aus dem harten, selbstsüchtigen Grund, dass Grace, wenn sie hier gewesen wäre, diese Frage anders beantwortet hätte. Sie hätte gewusst, dass ich darauf gar keine Antwort gewollt hatte. Sie hätte mir befohlen, schlafen zu gehen, und ich hätte es gekonnt. Und dann wäre dieser lange, schreckliche Tag endlich vorbei gewesen, und wenn ich morgen früh aufwachte, wäre alles schon viel logischer. Aber der Morgen verlor seine Heilkräfte, wenn er dich bereits mit weit offenen, misstrauischen Augen antraf.
    »Sam. Mann, rede ich hier mit mir selbst, oder was?« Durchs Telefon hörte ich das Piepen, das erklang, wenn eine Autotür geöffnet wurde. Dann einen scharfen Luftzug, als die Tür wieder zuschlug.
    Mir wurde klar, wie undankbar ich mich gerade aufführte. »Tut mir leid, Isabel. Es war nur … es war nur ein

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