Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
Vom Netzwerk:
15
GRACE
    Es war ein Albtraum. Um mich herum nur Schwärze. Nicht die von Silhouetten gefüllte Schwärze meines Zimmers bei Nacht, sondern die absolute, unermessliche Dunkelheit eines Orts, an dem es keinerlei Licht gab. Wasser spritzte auf meine nackte Haut, das beißende Prickeln von Regen und dann das schwerfälligere Plätschern von Tropfen, die von irgendwo weiter oben auf mich herunterrannen.
    Rings um mich herum hörte ich das Geräusch von Regen in einem Wald.
    Ich war ein Mensch.
    Ich hatte keine Ahnung, wo ich war.
    Plötzlich eine grelle Lichtexplosion. Zusammengekauert und zitternd sah ich gerade noch einen gegabelten Blitz in die schwarzen Äste über mir züngeln, meine nassen, schmutzigen Finger ausgestreckt vor mir und die violetten Geister der Baumstämme, die mich umgaben. Dann war wieder alles schwarz.
    Ich wartete. Ich wusste, es würde kommen, aber ich war trotzdem nicht vorbereitet, als Das Krachen des Donners klang, als käme es direkt aus meinem Inneren. Es war so laut, dass ich mir die Hände auf die Ohren presste und den Kopf zwischen die Schultern zog, bevor mein gesunder Menschenverstand übernahm. Es war nur Donner. Donner konnte mir nichts anhaben.
    Aber mein Herz hämmerte mir trotzdem in den Ohren.
    Ich stand in der Dunkelheit – so finster, dass es beinahe wehtat – und schlang die Arme um meinen Oberkörper. All meine Instinkte schrien mich an, mir einen Unterschlupf zu suchen, mich in Sicherheit zu bringen.
    Dann wieder: ein Blitz.
    Violett aufleuchtender Himmel, eine knorrige Hand aus Ästen und
    Augen.
    Ich atmete nicht.
    Es wurde wieder dunkel.
    Schwarz.
    Ich schloss die Augen und konnte die Gestalt immer noch im Negativ vor mir sehen: ein großes Tier, ein paar Meter von mir entfernt. Den Blick unverwandt auf mich gerichtet.
    Jetzt richteten sich die Härchen auf meinen Armen kribbelnd auf, eine langsame, lautlose Warnung. Plötzlich war alles, woran ich denken konnte, ein Tag, als ich elf Jahre alt war. Als ich auf der Reifenschaukel saß und las. Als ich aufsah und in ein Paar Augen blickte – und von der Schaukel gerissen wurde.
    Donner, ohrenbetäubend laut.
    Ich lauschte nach irgendetwas, das sich näherte.
    Wieder erhellte ein Blitz die Welt. Zwei Sekunden Licht und dort waren sie. Augen, farblos, als sich der Blitz in ihnen spiegelte. Ein Wolf. Keine drei Meter von mir entfernt.
    Es war Shelby.
    Die Welt wurde wieder schwarz.
    Ich rannte.

KAPITEL 16
SAM
    Ich wachte auf. Dann blinzelte ich, kurzzeitig verwirrt über die Helligkeit meines Schlafzimmerlichts mitten in der Nacht. Ganz langsam setzten sich meine Gedanken wieder zusammen und ich erinnerte mich, dass ich das Licht angelassen hatte, weil ich davon ausgegangen war, dass ich sowieso nicht würde einschlafen können.
    Und nun lag ich da, der Blick noch verschwommen vom Schlaf, und sah auf meine Schreibtischlampe, die asymmetrische Schatten von der anderen Seite des Zimmers warf. Mein Notizbuch war halb von meiner Brust gerutscht, alle Wörter darin völlig aus dem Lot. Über mir drehten sich die Papierkraniche an ihren Schnüren, hektisch und in zackigen Kreisen, belebt durch die Belüftungsklappe in der Decke. Sie schienen ihren jeweiligen Welten verzweifelt entkommen zu wollen.
    Als offensichtlich wurde, dass ich wohl nicht wieder einschlafen würde, streckte ich das Bein aus und schaltete mit dem nackten Fuß den CD-Player auf dem Tisch am Ende meines Betts ein. Eine mit den Fingern gezupfte Gitarre schallte aus den Lautsprechern, jeder Ton im selben Rhythmus wie mein Herzschlag. So schlaflos hier im Bett zu liegen, erinnerte mich an die Nächte vor Grace, als noch Beck und die anderen Wölfe mit im Haus gelebt hatten. Damals hatte das Volk der Papierkraniche über mir, bekritzelt mit Erinnerungen, gedroht, die Grenzen seines Lebensraumes zu sprengen, während langsam der Countdown bis zu meinem Verfallsdatum lief, dem Tag, an dem ich mich im Wald verlieren würde. Ich blieb halbe Nächte lang wach, versunken in meiner Sehnsucht.
    Aber diese Sehnsucht war etwas Abstraktes gewesen. Ich hatte mir etwas gewünscht, von dem ich wusste, dass ich es nicht haben konnte: ein Leben nach dem Sommer, ein Leben nach meinem zwanzigsten Geburtstag, ein Leben, in dem ich mehr Zeit als Sam denn als Wolf verbrachte.
    Doch jetzt war das, wonach ich mich sehnte, keine imaginäre Zukunft mehr. Es war eine konkrete Erinnerung, daran, wie ich auf dem Ledersessel im Arbeitszimmer der Brisbanes lümmelte, ein Buch – Im Land der

Weitere Kostenlose Bücher