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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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leeren Häuser – in der Hand, während Grace am Schreibtisch bei den Hausaufgaben saß und an ihrem Bleistift kaute. Ich sagte nichts, weil wir das nicht mussten, angenehm berauscht vom Ledergeruch des Sessels unter mir, dem schwachen Duft nach gebratenem Hühnchen in der Luft und den Geräuschen von Grace, die seufzte und sich in ihrem Schreibtischstuhl hin und her drehte. Neben ihr summte das Radio leise Popsongs, Top-40-Hits, die mit dem Hintergrund verschmolzen, bis Grace schief bei einem Refrain mitsang.
    Nach einer Weile hatte sie genug von ihren Hausaufgaben und kroch zu mir in den Sessel. Mach mal Platz, sagte sie, obwohl ich keinen hätte machen können. Ich protestierte, als sie mir in den Oberschenkel kniff, während sie hartnäckig versuchte, sich neben mich zu quetschen. Hab ich dir wehgetan? Tut mir leid, flüsterte sie mir dann ins Ohr, aber das war keine Entschuldigung, denn man biss jemandem nicht ins Ohrläppchen, um ihm zu sagen, dass einem etwas leidtat. Ich kniff zurück und sie vergrub ihr Gesicht lachend an meinem Schlüsselbein. Eine ihrer Hände schlängelte sich zwischen der Sessellehne und meinem Rücken zu meinen Schulterblättern. Ich tat so, als läse ich weiter, und sie tat so, als würde sie an mich geschmiegt dösen, in Wirklichkeit aber kniff sie mich andauernd in die Schultern und ich kitzelte sie mit meiner freien Hand, bis sie, selbst als wir uns wieder und wieder küssten, nicht aufhören konnte zu lachen.
    Es gibt keinen besseren Geschmack als jemandes Lachen in deinem Mund.
    Nach einer Weile schlief Grace wirklich an meiner Brust ein und ich versuchte erfolglos, es ihr nachzutun. Schließlich griff ich wieder nach meinem Buch, streichelte ihr Haar und las zum Soundtrack ihrer Atemzüge. Ihr Gewicht hielt meine flüchtigen Gedanken am Boden fest und in diesem Moment war ich mehr Teil dieser Welt, als ich es je zuvor gewesen war.
    Und jetzt, als ich die Papierkraniche dabei beobachtete, wie sie ungeduldig an ihren Schnüren zerrten, wusste ich genau, was ich wollte, weil ich es bereits gehabt hatte.
    Ich schlief nicht wieder ein.

KAPITEL 17
GRACE
    Einen Wolf konnte ich unmöglich abhängen. Keine von uns sah besonders gut im Dunkeln, aber Shelby hatte den Geruchssinn und das Hörvermögen eines Wolfs. Ich dagegen hatte nichts als nackte Füße, die sich im Dornengestrüpp verfingen, und stumpfe Fingernägel, die zu kurz waren, um mich damit zu verteidigen, und Lungen, die nicht genügend Luft bekamen. Ich fühlte mich vollkommen hilflos in diesem stürmischen Wald. Alles, woran ich denken konnte, waren Zähne, die sich in mein Schlüsselbein schlugen, heißer Atem auf meinem Gesicht, Schnee, der mein Blut aufsaugte.
    Wieder krachte über mir der Donner und ließ nur das schmerzhaft schnelle Pochen meines Herzens zurück.
    Panik half jetzt auch nicht.
    Beruhig dich, Grace.
    Zwischen den einzelnen Blitzen stolperte ich weiter, die Hände vor mir ausgestreckt. Teilweise, um zu verhindern, dass ich irgendwo gegen lief, und teilweise in der Hoffnung, einen Baum zu finden, der so niedrige Äste hatte, dass ich hinaufklettern konnte. Das war der einzige Vorteil, den ich Shelby gegenüber hatte – meine Finger. Aber die Bäume hier waren alle entweder dürre Kiefern oder riesige Eichen – mit Ästen erst ab fünf bis fünfzehn Metern Höhe.
    Und hinter mir, irgendwo: Shelby.
    Shelby wusste, dass ich sie gesehen hatte, darum gab sie sich keine Mühe mehr, leise zu sein. Obwohl sie in der Dunkelheit nicht besser sehen konnte als ich, hörte ich, wie sie mich zwischen den Blitzen immer weiter einholte, gelenkt von ihrer Nase und ihren Ohren.
    Noch mehr Angst aber machte es mir, wenn ich sie nicht hörte.
    Ein Blitz flackerte auf. Ich glaubte zu sehen, wie –
    Ich blieb stehen, reglos, wartete ab. Ich hielt den Atem an. Das Haar klebte mir nass im Gesicht und an den Schultern; eine einzelne Strähne hing mir im Mundwinkel. Es war einfacher, die Luft anzuhalten, als der Versuchung zu widerstehen, die paar Haare zur Seite zu streichen. Während ich so starr dastand, wurden mir plötzlich all die kleinen Unannehmlichkeiten bewusst: Meine Füße taten weh. Der Regen brannte auf meinen schlammverschmierten Beinen. Ich musste mich an ungesehenen Dornen verletzt haben. Mein Magen fühlte sich vollkommen leer an.
    Ich versuchte, nicht an Shelby zu denken. Ich versuchte, mich zu konzentrieren und den Blick auf den Punkt zu richten, an dem ich meinte, einen Weg in die Sicherheit gesehen zu

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