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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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war, vor langer Zeit, als ich noch jemand anderes gewesen war. Im einen Augenblick war ich allein gewesen und der Morgen und mein restliches Leben hatten vor mir gelegen wie Bilder aus einem Film, jede Sekunde nur ein winziges bisschen anders als die vorangegangene. Das Wunder einer nahtlosen, unbemerkten Metamorphose. Und im nächsten waren die Wölfe da.
    Ich seufzte. Über mir bewegten sich Satelliten und Flugzeuge mühelos zwischen den Sternen hindurch; eine von Blitzen durchzuckte Wolkenbank schob sich langsam von Nordwesten her in mein Blickfeld. Mein Geist huschte rastlos hin und her, zwischen der Gegenwart – dem alten Baumstumpf, der sich hart in meine Schulterblätter presste – und der Vergangenheit – meinem Rucksack, der unter mir zusammengedrückt wurde, als die Wölfe mich in eine Schneewehe stießen, die das Räumfahrzeug zurückgelassen hatte. Meine Mutter hatte mir eine wahre Rüstung angelegt, aus einem blauen Wintermantel mit weißen Streifen an den Ärmeln und Handschuhen, die zu dick waren, um darin die Finger zu bewegen.
    In meiner Erinnerung konnte ich mich nicht hören. Ich sah nur, wie mein Mund sich bewegte und die stöckchendürren Ärmchen meines siebenjährigen Ichs auf die Schnauzen der Wölfe eintrommelten. Ich beobachtete mich von einem Punkt außerhalb meines Körpers, ein blauweißer Mantel, eingepfercht unter einem schwarzen Wolfskörper. Unter seinen gespreizten Pfoten wirkte das Kleidungsstück substanzlos und leer, als wäre ich bereits verschwunden und hätte die äußeren Merkmale meines Menschenlebens zurückgelassen.
    »Hör dir das mal an, Ringo.«
    Meine Augen flogen auf. Ich brauchte einen Moment, bis ich Cole registrierte, der im Schneidersitz neben mir auf dem Baumstumpf saß. Er war eine schwarze Silhouette vor einem im Vergleich dazu grauen Himmel und hielt meine Gitarre so unsicher, als hätte sie Stacheln.
    Er spielte einen D-Dur-Akkord, unrein und schnarrend, und sang mit seiner tiefen, rauen Stimme: »I fell for her in summer« , unbeholfener Griffwechsel und melodramatisch kippende Stimme, »my lovely summer girl. «
    Meine Ohren brannten, als ich meinen eigenen Songtext erkannte.
    »Ich hab deine CD gefunden.« Cole starrte eine Ewigkeit auf den Gitarrenhals, bevor er den nächsten Akkord griff. Aber er hatte jeden einzelnen Finger falsch auf das Griffbrett gelegt, zu nah am Bund, sodass ein eher perkussiver als melodischer Ton entstand. Er stieß ein liebenswert frustriertes Schnauben aus und sah mich an. »Als ich in deinem Auto rumgeschnüffelt hab.«
    Ich schüttelte bloß den Kopf.
    »Sie schlägt mich mit dem Hammer, mein hartes Hammergirl« , sang Cole jetzt, mit einem weiteren schnarrenden D als Begleitung. Mit gespielt verträumter Stimme sagte er: »Ich glaube, ich hätte leicht wie du enden können, Ringo, wenn ich mit Karamell-Macchiato gesäugt worden wäre und ein Rudel Werwölfe mir viktorianische Lyrik als Gutenachtgeschichten vorgelesen hätte.« Er sah meinen Gesichtsausdruck. »Ach, jetzt mach dir mal nicht gleich ins rosa Höschen.«
    »Mein Höschen ist völlig trocken«, entgegnete ich. »Hast du getrunken?«
    »Ich glaube, ich kann mit Recht behaupten«, antwortete er, »dass ich jeden Tropfen im Haus erfolgreich vernichtet habe. Also nein.«
    »Warum warst du in meinem Auto?«
    »Weil du da nicht warst«, sagte Cole. Wieder spielte er denselben Akkord. »Ist ein echter Ohrwurm, schon gemerkt? Ich läg so gern im Bett mit dir, du süßes Sommergirl, aber ich brings echt nicht, bin halt kein ganzer Körl …«
    Ich sah zu, wie ein Flugzeug mit blinkenden Lichtern über den Himmel kroch. Erinnerungen daran, wie ich diesen Song geschrieben hatte, stiegen in mir auf, in dem Sommer, bevor ich Grace wirklich kennenlernte. Es war einer von jenen Songs, die wie im Rausch aus mir herausströmten, alles auf einmal, während ich über meine Gitarre gebeugt auf der Bettkante hockte und versuchte, passende Akkorde für den Text zu finden, bevor die Melodie wieder verflogen war. Wie ich ihn unter der Dusche gesungen hatte, um ihn fest in meinem Kopf zu verankern. Wie ich ihn beim Wäschefalten unten bei den anderen nur gesummt hatte, weil ich nicht wollte, dass Beck mich über ein Mädchen singen hörte. Und wie ich mir die ganze Zeit über das Unmögliche gewünscht hatte, das, was wir uns alle wünschten: den Sommer zu überdauern.
    Cole brach seinen Quatschgesang ab und sagte: »Dieses andere in Moll gefällt mir noch besser, aber das hab ich

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