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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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nicht hingekriegt.« Er versuchte, einen anderen Akkord zu greifen. Die Gitarre schnarrte ihn an.
    »Diese Gitarre«, sagte ich, »gehorcht nur ihrem Herrn und Meister.«
    »Ja«, stimmte Cole zu, »aber Grace ist nun mal nicht hier.« Verschlagen grinste er mich an. Er schrummte wieder das D. »Das ist der einzige Akkord, den ich einigermaßen spielen kann. Guck dir das bloß an. Zehn Jahre Klavierunterricht, Ringo, aber drück mir ein Mal ’ne Gitarre in die Hand und ich verwandle mich in ein sabberndes Baby.«
    Ich hatte ihn auf dem Album von NARKOTIKA zwar spielen hören, trotzdem fiel es mir erstaunlich schwer, mir Cole bei der Klavierstunde vorzustellen. Um ein Musikinstrument spielen zu lernen, musste man eine gewisse Toleranz für Langeweile und Misserfolge aufbringen können. Und die Fähigkeit, still zu sitzen, schadete auch nicht.
    Ich sah zu, wie Blitze von Wolke zu Wolke sprangen; die Luft bekam langsam die typische Schwere, die immer vor Gewittern auftauchte. »Du legst die Finger zu dicht am Bund an. Darum schnarrt es so. Schieb sie ein Stück weiter dahinter und drück fester zu. Nur mit den Fingerspitzen, nicht mit der ganzen Kuppe.«
    Eigentlich hatte ich nicht das Gefühl, es sonderlich gut erklärt zu haben, aber Cole änderte seine Fingerhaltung und spielte einen perfekten Akkord, ohne Schnarren oder tote Saiten.
    Verträumt sah Cole zum Himmel auf und sang: »Ich bin ein heißer Typ, riskier gern ’ne dicke Lippe …« Dann sah er mich an. »Die nächste Zeile musst du singen.«
    Dieses Spiel hatten Paul und ich auch manchmal gespielt. Ich überlegte, ob ich zu sauer auf Cole war, um mitzuspielen, weil er sich über meine Musik lustig gemacht hatte. Nach einer etwas zu langen Pause fügte ich, halbherzig und so ziemlich in derselben Melodie, hinzu: »Und ich seh den Satelliten nach. «
    »Nette Idee, Emo-Boy«, sagte Cole. In der Ferne grollte Donner. Er spielte noch ein D und sang: »Und mein Weg endet mal auf Mercy Falls’ Müllkippe …«
    Ich stemmte mich auf die Ellbogen hoch, Cole schrammelte für mich weiter und ich sang: »Denn jeden Abend werd ich als Hund wach. «
    Dann fragte ich: »Willst du eigentlich bei jeder Zeile denselben Akkord spielen?«
    »Denke schon, ist schließlich mein bester. Ich bin ein One-Akkord-Wonder.«
    Ich griff nach der Gitarre und fühlte mich wie ein Feigling. Jetzt dieses Spiel mit ihm zu spielen, war, als würde ich die Geschehnisse von letzter Nacht billigen und das, was er jede Woche mit dem Haus anstellte, und das, was er jede Minute mit sich selbst anstellte. Doch als ich die Gitarre von ihm entgegennahm und sanft über die Saiten strich, um zu hören, ob sie gestimmt war, fühlte sich das wie eine unendlich viel vertrautere Sprache an als jede, die ich in einem ernsten Gespräch mit Cole benutzen würde.
    Ich spielte ein F-Dur.
    »Aha, jetzt werden Nägel mit Köpfen gemacht«, sagte Cole. Aber er sang keine weitere Zeile. Stattdessen legte er sich, jetzt, da ich mit der Gitarre aufrecht saß, ausgestreckt auf meinen Platz auf dem Baumstumpf und starrte in den Himmel. So gut aussehend und lässig, wie er war, wirkte es, als wäre die Szene von einem einfallsreichen Fotografen arrangiert worden, als hätte ihn der Anfall von letzter Nacht kein bisschen aus der Fassung gebracht. »Spiel mal das in Moll.«
    »Welches –?«
    »Das, in dem es um Abschied geht.«
    Ich sah hinaus in den schwarzen Wald und spielte einen a-Moll-Akkord. Einen Augenblick lang war es danach vollkommen still, mit Ausnahme irgendeines Insekts, das aus den Bäumen hervorzirpte.
    Dann sagte Cole: »Nein, richtig, sing das Lied.«
    Ich dachte an den spöttischen Unterton in seiner Stimme, als er Summer Girl gesungen hatte, und erwiderte, »Nein. Ich will – nein.«
    Cole seufzte, als hätte er schon mit einer Enttäuschung gerechnet. Über uns rumorte der Donner, der anscheinend einen Vorsprung gegenüber der Gewitterwolke hatte, denn die umhüllte gerade die Baumwipfel wie eine Hand, die ein Geheimnis verbarg. Abwesend zupfte ich an den Gitarrensaiten, weil mich das beruhigte, und sah nach oben. Es war faszinierend, wie diese Wolke selbst zwischen den einzelnen Blitzen wirkte, als wäre sie von innen erleuchtet, als hätte sie all das Licht aufgesogen, das die vielen Häuser und Städte abgaben, die sie überquerte. Vor dem schwarzen Himmel wirkte sie beinahe künstlich: violettgrau, mit messerscharfen Rändern. Es schien unmöglich, dass so etwas in der Natur existieren

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