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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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sollte.
    »Arme kleine Scheißer«, sagte Cole, den Blick noch immer auf die Sterne gerichtet. »Die müssen doch echt die Schnauze voll davon haben, uns ständig dabei zuzusehen, wie wir immer wieder dieselben Fehler machen.«
    Plötzlich erfüllte mich dieser Zustand des Wartens mit unglaublicher Dankbarkeit. Denn egal, wie sehr er auch an mir nagte, mich zum Wachbleiben zwang, mir meine Gedanken raubte, am Ende dieser endlosen Warterei stand Grace. Worauf wartete Cole?
    »Jetzt?«, fragte Cole.
    Ich hörte auf, Gitarre zu spielen. »Was, jetzt?«
    Cole stemmte sich hoch. Auf die Hände gestützt, blickte er immer noch nach oben und sang, völlig ungehemmt – aber wieso sollte er es auch sein? Ich stellte schließlich nur ein Zweitausendstel des Publikums dar, an das er gewöhnt war.
    »One thousand ways to say good-bye, one thousand ways to cry …«
    Ich spielte den a-Moll-Akkord, mit dem der Song anfing, und Cole verzog den Mund zu einem selbstkritischen Lächeln, als er merkte, dass er in der falschen Tonart angefangen hatte. Ich spielte den Akkord noch mal und diesmal sang ich und ich hatte auch keine Hemmungen, denn schließlich hatte Cole mich schon über die Lautsprecher meines Autos gehört und ich hatte nichts mehr zu verlieren:
     
    One thousand ways to say good-bye
    One thousand ways to cry
    One thousand ways to hang your hat before you go outside
    I say good-bye good-bye good-bye
    I shout it out so loud
    ’ Cause the next time that I find my voice
    I might not remember how.
     
    Als ich den Teil mit good-bye good-bye good-bye sang, fiel Cole mit den Harmonien ein, die ich auf meinem Demo aufgenommen hatte. Die Gitarre klang ein kleines bisschen schief- nur die H-Saite, es war immer die H-Saite, die sich verstimmte – und wir klangen auch ein kleines bisschen schief, aber es hatte trotzdem etwas Tröstliches, Kameradschaftliches.
    Es war ein dünnes, zerfranstes Seil, über die Kluft zwischen uns geworfen. Nicht lang genug, um die andere Seite zu erreichen, aber vielleicht gerade ausreichend, um zu erkennen, dass sie nicht so breit war, wie ich anfangs gedacht hatte.
    Am Ende imitierte Cole mit einem gehauchten Haaaa-haaaaahaaaa ein begeistertes Publikum. Dann verstummte er abrupt und sah mich mit schief gelegtem Kopf an. Seine Augen waren schmal, als lauschte er auf irgendetwas.
    Und dann hörte ich sie auch.
    Die Wölfe heulten. Ihre fernen Stimmen, so rhythmisch und melodisch, tönten einen Moment lang durcheinander, bis sie die Harmonie wiederfanden. Sie klangen rastlos heute Abend, aber wunderschön – als warteten sie, wie wir anderen auch, auf etwas, das wir nicht recht benennen konnten.
    Cole sah mich immer noch an, also sagte ich: »Das ist ihre Coverversion des Songs.«
    »Müsste man noch ein bisschen dran feilen«, erwiderte Cole. Er blickte auf meine Gitarre. »Aber ansonsten nicht übel.«
    Dann saßen wir schweigend da und hörten den Wölfen beim Heulen zu, sofern es der Donner zuließ. Ohne Erfolg versuchte ich, Grace’ Stimme zu erkennen, aber ich hörte nur diejenigen, mit denen ich aufgewachsen war. Ich hielt mir vor Augen, dass ich ihre richtige Stimme doch erst heute Nachmittag gehört hatte. Es hatte keinerlei Bedeutung, dass sie nun in dem Gesang fehlte.
    »Auf den Regen kann ich gut verzichten«, sagte Cole.
    Ich sah ihn stirnrunzelnd an.
    »Na dann, nix wie zurück in den Zwinger, was?« Cole schlug sich mit der flachen Hand auf den Arm und schnippte mit geschickten Fingern ein unsichtbares Insekt von seiner Haut. Er erhob sich, hakte die Daumen in die hinteren Hosentaschen und blieb mit dem Gesicht zum Wald stehen. »Damals in New York, da hat Victor –«
    Er hielt inne. Im Haus klingelte das Telefon. Ich nahm mir vor, ihn später zu fragen: Was war in New York?, aber als ich drinnen ankam, war Isabel am Telefon und erzählte mir, dass die Wölfe ein Mädchen getötet hatten und dass es nicht Grace war, ich aber gefälligst den verdammten Fernseher einschalten sollte.
    Ich schaltete ihn ein und Cole und ich standen vor der Couch. Er verschränkte die Arme, während ich mich durch die Sender klickte.
    In der Tat waren die Wölfe wieder Thema in den Nachrichten. Es war einmal ein Mädchen, das wurde von den Wölfen von Mercy Falls angegriffen. Damals war der Bericht kurz und spekulativ. Das wichtigste Wort lautete Unfall.
    Jetzt, zehn Jahre später, war ein anderes Mädchen tot und die Berichte schienen nicht enden zu wollen.
    Jetzt lautete das Wort Vernichtung.

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