In deinen Augen
noch heute nicht mit ihnen. Sie betrachten mich immer noch unter diesem Riesenvergrößerungsglas.« Sie machte eine Fernglas-Geste. »Ich dachte ehrlich, wir wären tolle Eltern, Lewis und ich. Sobald Grace uns bat, Sachen allein machen zu dürfen, haben wir sie gelassen. Ich will nicht lügen – ich war natürlich auch sehr froh, mein eigenes Leben wiederzuhaben. Aber es ging ihr doch gut. Alle anderen haben immer erzählt, wie frech ihre Kinder waren oder was für schlechte Noten sie bekamen. Wenn es mit Grace je so weit gekommen wäre, hätten wir uns ja anders verhalten.«
Das klang nicht wie ein Geständnis. Mehr nach »Stellungnahme der Künstlerin«. Ein Konflikt, sauber destilliert, in vernünftigen kleinen Happen für die Presse. Ich sah Amy nicht an. Nur Grace auf der Leinwand. »Sie haben sie ganz allein gelassen.«
Pause. Vielleicht hatte sie nicht erwartet, dass ich überhaupt etwas sagte. Oder vielleicht nur nicht, dass ich ihr widersprach.
»Das ist nicht wahr«, sagte sie.
»Ich glaube an das, was sie mir erzählt hat. Ich habe sie Ihretwegen weinen sehen. Das war echt. Grace ist kein theatralischer Mensch.«
»Aber sie hat nie mehr verlangt«, verteidigte sich Amy.
Jetzt sah ich sie doch an – fixierte sie mit meinen gelben Augen. Ich wusste, dass sie das nervös machte, es machte jeden nervös. »Wirklich nicht?«
Amy hielt meinem Blick für ein paar Sekunden stand und sah dann weg. In diesem Moment wünschte sie sich wahrscheinlich, sie hätte mich auf dem Gehweg stehen lassen.
Doch als sie den Kopf wieder hob, waren ihre Wangen feucht und ihre Nase unschön gerötet. »Okay, Sam. Schluss mit dem Mist. Ich weiß, dass ich manchmal egoistisch war. Dass ich manchmal nur gesehen habe, was ich sehen wollte. Aber dazu gehören immer zwei, Sam – Grace war auch nicht gerade die liebevollste Tochter auf der Welt.« Sie wandte sich ab, um sich die Nase an ihrer Bluse abzuwischen.
»Lieben Sie sie?«, fragte ich.
Sie legte die Wange an ihre Schulter. »Mehr als sie mich.«
Ich antwortete nicht. Ich wusste nicht, wie sehr Grace ihre Eltern liebte. Ich wünschte, ich wäre jetzt bei ihr, anstatt hier in diesem Atelier, wo ich nicht wusste, was ich sagen sollte.
Amy ging ins angrenzende Badezimmer. Ich hörte, wie sie sich geräuschvoll schnäuzte, dann kam sie wieder zurück. Ein paar Meter von mir entfernt blieb sie stehen und betupfte sich die Nase mit einem Taschentuch. Sie hatte diesen eigenartigen Gesichtsausdruck, den Menschen bekommen, wenn sie im Begriff sind, etwas Ernsthafteres zu sagen, als sie es gewohnt sind.
»Liebst du sie?«, fragte sie.
Ich spürte, wie meine Ohren heiß wurden, auch wenn ich mich nicht für meine Gefühle schämte. »Ich bin hier«, sagte ich.
Sie kaute auf der Unterlippe und nickte in Richtung Boden. Dann, immer noch ohne mich anzusehen, fragte sie: »Wo ist sie?«
Ich rührte mich nicht.
Nach einer langen Weile hob sie den Blick und sah mich an. »Lewis denkt, du hast sie umgebracht.«
Ich spürte nichts. Noch nicht. Im Moment waren es nur Worte.
»Wegen deiner Vergangenheit«, fuhr sie fort. »Er meint, du wärst zu still und zu seltsam und dass deine Eltern dich verkorkst hätten. Dass du nach alldem gar nicht anders als kaputt sein könntest und dass du Grace getötet hast, als du erfahren hast, dass er dich nie wieder zu ihr lassen wollte.«
Meine Hände wollten sich zu Fäusten ballen, aber das hätte nicht gut gewirkt, also zwang ich sie, lose hängen zu bleiben. Sie fühlten sich an wie Gewichte an meinen Seiten, geschwollen, so als gehörten sie gar nicht zu meinem Körper. Und die ganze Zeit über beobachtete Amy mich, versuchte, meine Reaktion abzuschätzen.
Ich wusste, sie wollte Worte, aber ich hatte keine, die ich aussprechen wollte. Also schüttelte ich nur den Kopf.
Sie verzog den Mund zu einem traurigen kleinen Lächeln. »Ich glaube auch nicht, dass du das getan hast. Aber dann – wo ist sie, Sam?«
Beklommenheit stieg langsam in mir auf. Ich wusste nicht, ob es an dem Gespräch lag oder an den Farbdämpfen oder daran, dass Cole ganz allein im Laden war, aber sie war da.
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
Grace’ Mom legte mir die Hand auf den Arm. »Wenn du sie vor uns findest«, bat sie, »dann sag ihr, dass wir sie lieben.«
Ich dachte an Grace und an das leere Kleid, zusammengeknüllt in meiner Hand. Grace, weit, weit weg und unerreichbar im Wald.
»Egal, was kommt?«, fragte ich, auch wenn ich
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