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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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weg.
    »Fünf«, antwortete Cole und blieb stehen, um seinen Schuh an einem Baumstamm abzuklopfen. Dicke Matschklumpen fielen aus den Profilen. »Ungefähr.«
    »Ungefähr?«
    Cole lief weiter. »Als Nächstes mache ich eine für Tom Culpeper«, sagte er, ohne sich umzudrehen.
    Ich konnte nicht behaupten, dass ich was dagegen hatte.
    »Und was genau hast du vor, wenn du tatsächlich einen fängst?«
    Cole stieß einen übertrieben angeekelten Laut aus, als er über einen Haufen Hirschkot stieg. »Rausfinden, was uns dazu bringt, uns zu verwandeln. Und rausfinden, ob du wirklich geheilt bist.«
    Ich war überrascht, dass er noch keine Blutprobe von mir gefordert hatte.
    »Vielleicht«, sagte Cole nachdenklich, »führe ich demnächst mal ein paar Experimente an dir durch. Alle ganz harmlos natürlich.«
    Offenbar kannte ich ihn schon besser, als ich dachte. »Vielleicht auch nicht«, erwiderte ich.
    Plötzlich stieg mir beim Gehen ein Hauch von irgendetwas in die Nase, das mich an Shelby erinnerte. Ich blieb stehen, drehte mich langsam um die eigene Achse und stieg vorsichtig über einen peitschenartigen, leuchtend grünen Dornentrieb zu meinen Füßen.
    »Was machst du da, Ringo?«, fragte Cole und blieb stehen, um auf mich zu warten.
    »Ich dachte, ich hätte was gerochen …« Ich hielt inne. Wie sollte ich ihm das erklären?
    »Die weiße Wölfin? Die biestige?«
    Ich sah ihn an. Er machte ein wissendes Gesicht.
    »Ja. Shelby«, sagte ich. Was es auch immer für ein Geruch gewesen war, den ich eben aufgeschnappt hatte, jetzt schien er verflogen. »Die macht eigentlich nur Ärger. Hast du sie in letzter Zeit mal gesehen?«
    Cole nickte knapp. Ich spürte, wie sich in meinem Magen ein Knoten der Enttäuschung ausdehnte, kalt und unverdaulich. Ich hatte Shelby seit Monaten nicht gesehen und in meinem Optimismus gehofft, sie hätte den Wald verlassen. Schließlich war es nicht ganz ungewöhnlich, dass Wölfe sich von ihrem Rudel trennten. Die meisten Rudel hatten einen Sündenbock, einen Wolf, auf dem ständig herumgehackt, der vom Futter weggejagt und völlig aus der Hierarchie ausgeschlossen wurde, und diese Außenseiter wanderten oft Hunderte von Meilen, um ein neues Rudel zu gründen, irgendwo weit weg von ihren Peinigern.
    Vor langer Zeit war Salem, ein älterer Wolf, den ich schon ewig nicht mehr gesehen hatte, der Omegawolf des Rudels gewesen. Doch während ich mich durch die Meningitis kämpfte, hatte ich genug von Shelby mitbekommen, um zu wissen, dass sie in Pauls Achtung, und damit auch in der Achtung des Rudels, noch tiefer gesunken war. Es war, als hätte er irgendwie erfahren, was sie Grace und mir angetan hatte.
    »Wieso Ärger?«, fragte Cole.
    Ich wollte es ihm nicht sagen. Über Shelby zu reden, wäre, wie die Erinnerungen an sie aus den Kartons hervorzuholen, in denen ich sie so sorgsam verstaut hatte, und ich glaubte nicht, dass ich dafür bereit war. Zurückhaltend erklärte ich: »Shelby ist lieber ein Wolf als ein Mensch. Sie … sie hatte ’ne üble Kindheit und irgendwas stimmt nicht mit ihr.« Sobald ich die Worte ausgesprochen hatte, hasste ich mich dafür, denn das war genau dasselbe wie das, was Grace’ Mom kurz zuvor noch über mich gesagt hatte.
    Cole grunzte. »Na, das ist ja mal wieder ganz nach Becks Geschmack.« Er wandte sich ab und lief los, folgte vage der Spur, die Shelby hinterlassen hatte, und nach einem Moment ging ich ihm hinterher, noch ganz in meine Gedanken versunken.
    Ich dachte daran, wie Beck Shelby mit nach Hause gebracht hatte. Wie er uns alle gebeten hatte, ihr Zeit zu geben, ihr genügend Raum zu geben, ihr irgendwas zu geben, was sie brauchte, was wir ihr aber nicht bieten konnten. Dann waren Monate vergangen, es war ein warmer Tag wie dieser. Beck hatte gesagt: Kannst du mal gucken, was Shelby so im Schilde führt? Er dachte natürlich nicht, dass sie wirklich etwas im Schilde führte, sonst wäre er selbst gucken gegangen.
    Ich fand sie draußen, zusammengekauert in der Einfahrt. Sie zuckte zusammen, als sie mich kommen hörte, doch als sie sah, dass ich es war, drehte sie sich ungerührt wieder um. Für sie war ich wie Luft: weder gut noch böse. Ich war einfach da. Also reagierte sie nicht, als ich zu ihr kam, ihr Gesicht hinter ihrem weißblonden Haar verborgen.
    Sie hatte einen Bleistift in der Hand, mit dem sie in winzigen Eingeweiden stocherte, mithilfe der Spitze Darmwindungen gerade zog. Sie sahen aus wie Würmer. Dazwischen lag ein metallisch grünes,

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